October 04, 2010

Verzicht auf Errungenschaften

 
Ich überlege mir, ob dies eventuell tatsächlich eine neue Herausforderung ist, vor der sich der Mensch gerade befindet. Die jetzigen Generationen sind vielleicht die Ersten, die sich mit der Tatsache auseinandersetzten müssen, dass der Verzicht auf schon erreichte Fortschritte unausweichlich werden könnte. Und zwar der freiwillige Verzicht darauf. In der Vergangenheit, bis hin zu der aller jüngsten Vergangenheit, musste der Mensch nie auf einen als Fortschritt empfundenen Sachverhalt aus eigenen Stücken verzichten. Dieser Verzicht wurde in den meisten Fällen mit grober Gewalt von Aussen erzwungen und auferlegt. So benötigte es einer Revolution um den Adel zu einer anderen Verteilung von Güter und Reichtum zu zwingen. Es ist erst durch einen äusserst blutigen und grausamen Krieg möglich geworden, weisse Grundbesitzer dazu zu bringen, schwarze Menschen nicht mehr als frei verfügbare Arbeitskraft (nicht anders als Tiere) besitzen zu wollen. Fortschritt und Errungenschaften werden als neu gewonnene Privilegien betrachtet und Privilegien dürfen nicht, in einer "freien und demokratischen" Welt, anderen Menschen genommen werden. Und, mit wenigen Ausnahmen, verzichtet niemand freiwillig auf seine gewonnene Privilegien. Je nach dem ist dann nur noch über die Gesetzgebung und mit von der Mehrheit getragene Entschlüsse etwas daran zu ändern. Einige ganz grosse Menschen haben das schier Unmögliche erreicht und schwerwiegende Reformen ohne Gewalt zu umsetzen gewusst. Doch diese sind Ausnahmen, die eine gewisse Regel untermauern.

Die Menschheit hat bis heute an einen Fortschritt gearbeitet, was mit jeder Neuigkeit ein besseres Leben erlaubte. Was nicht gegen das allgemeine Wohlergehen missbraucht wurde, stellte praktisch immer eine weitere Besserung des allgemeinen Wohlergehens. Und plötzlich sind wir damit konfrontiert, die Spitze dieser Entwicklung erreicht zu haben. Plötzlich müssen wir uns damit auseinandersetzen, dass wir auf das Eine oder Andere, was wir erreicht haben, werden verzichten müssen. Kein Wunder, fällt uns auch schon die grundlegende Auseinandersetzung mit diesem neuen Sachverhalt derart schwer: Er liegt im klaren Gegensatz zu all dem was uns seit je angetrieben hat.

Bild von Oliver Schmid


Mein Vater beschäftigte sich leidenschaftlich mit Fragen der Mobilität, des öffentlichen Verkehrs, der Verkehrsführung, usw. Mit ganzem Herzen wäre er, Zeit seines erwachsenen Lebens, gerne Strassen- und Verkehrsplaner gewesen. Ausserdem kannte er auswendig alle Namen (also Nummern) der Schweizer Lokomotiven. So wie er auch jeden Pass und Gipfel der Schweiz benennen konnte — unter anderem weil er die Meisten davon in seiner Jugend mit dem Fahrrad erklommen hatte. Jedenfalls war es für ihn eine Selbstverständlichkeit, dass man dem privaten Personen-Verkehr keinerlei Einschränkungen auferlegen sollte und durfte. Als die Problematik der Verschmutzung immer deutlicher aufkam, entdeckte ich in ihm eine Haltung die zu keinerlei Kompromiss bereit war. Ich brauchte eine ganze Weile um diese Haltung überhaupt verstehen zu können. Mein Vater war ja nicht der völlige Egoist, dem die Luftverschmutzung einfach nichts anging. Er war auch nicht der Meinung, dieses Problem könnte man ohne weiteres den nächsten Generationen überlassen und, bis dorthin, einfach das Möglichste raus holen. Nein, er war der festen Überzeugung, dass ein Problem nicht durch "Rückschritt" hätte gelöst werden können.

Er war der Meinung, dass wenn die allgemeine Mobilität ganz gravierende Probleme mit sich brächte, trotzdem nicht die Mobilität an sich das Problem sei. Seiner Meinung nach lag das Problem darin, dass man nicht an der wirklichen Lösung des Problems arbeitete und forschte, nämlich in den nächsten technologischen Fortschritt. Er erzählte mir von Magnet-Bahnen, dort wo wir heute noch die Auto-Bahnen hatten, auf denen kleine Wagons, von der Grösse eines PKWs, die Menschen individuell von A nach B oder eben nach C befördern konnten. Wenn man mit seiner Einheit an der "Ausfahrt" aus der Magnet-Bahn hat, also von der Haupt-Verkehrsachse kommt, kann man mit dem Elektro-Motor bis vor die Haustüre fahren. Durch diese Magnet-Bahnen und der automatisierten Fortbewegung wären auch Verkehrstote eine Sache der Vergangenheit geworden. Die Energie für die Magnete könnte sauber und nachhaltig erzeugt werden, sowie die Energie für jegliche sonstige Bedürfnisse der Menschheit.

Autor unbekannt


Ein vielleicht "banaleres", jedoch viel alltäglicheres Beispiel ist das von einem sehr sehr guten Freund von mir, aus einer ganz gewöhnlichen, bodenständigen, italienischen Arbeiterfamilie. Mein Freund war eindeutig das schwarze Schaf in der relativ grossen Verwandtschaft, beschäftigte er sich doch mit klassischer Musik, Poesie und Literatur, Ernährung, usw. Als er seinen Eltern den Vorschlag machte, nicht immer und ausschliesslich Weissbrot zu essen, hatten diese nur Hohn für ihn übrig. Schwarzes Brot war das der Armen, das von vor dem Krieg, das was nur deswegen gegessen wurde weil es das einzige war, das man sich leisten konnte. Und nun sollten sie freiwillig darauf verzichten? Jetzt, wo sich endlich jeder ehrliche Arbeiter sein Stück Weissbrot leisten konnte, sollten sie wieder damit beginnen, das Armen-Brot zu essen? Niemals!


Heute ist der Konsument schon völlig überfordert von all dem was er beachten sollten, bei jedem Einkauf und bei jedem Entscheid den er Tag für Tag trifft. Dazu kommt, dass bei aller Mühe die man sich beim Einkaufen macht, tatsächlich neue und extrem schwerwiegende Probleme auftreten. Ich kann zum Beispiel bis Heute kaum glauben, geschweige denn noch verstehen wie es dazu kommen konnte, dass wir vor einem neuen Problem wie dem des Palmöls stehen. Bei all dem Wissen, bei all dem... Wissen! Bei all unserem Wissen, tauchen noch so unglaublich tönende Probleme wie das des Palmöls auf! Oder, genau so schlimm aber noch unglaublicher tönend, inmitten unseren reichen und fortschrittlichen Europas: Spanien ernährt mit seinen Früchten und Gemüsen ganz Europa im Supermarkt, obwohl in vielleicht weniger als 10 Jahre nicht einmal genügend Wasser verhanden sein wird um die Ernährung der eigenen Bevölkerung sicherzustellen! Spanien verkommt unaufhörlich zu einer Wüste, doch Golfplätze und wasserintensive Anbausorten machen das Rennen um weiteres Land, das benützt werden kann. Und die Lokalpolitiker reden nur ungern über das Problem, denn es ist nicht "populär"... Und, als wäre es nicht genug, werden die ausländische Handlangern weniger als Tiere erachtet, und müssen schlimmer als was wir jedem Haustier zumuten würden leben. Ohne Vertrag, zur Hälfte des gesetzlich minimalen Lohn. Und dies ist die Regel! Bei all dem Wissen? Wie soll ich, als Konsument, noch einen Einfluss auf die verschiedenen Entwicklungen haben? Also beginn ich den verschiedenen Labels zu trauen — schliesslich bleibt mir ja nichts anderes übrig. Doch dann finde ich heraus, dass sich BP weltweit als "Grüne Gesellschaft" vermarktet hat. Und kann mir durchaus denken, dass BP auch vor einem Label nicht zurückgeschreckt hätte, dass ihr einen vollkommen "grünen", verantwortungsvollen und (natürlich) nachhaltigen Umgang mit unserem Planeten attestiert hätte. Wo liegt also wirklich das Problem?

Natürlich verzichte ich nur höchst ungern auf meine Ferien im Ausland. Natürlich verzichtet kein Banker der etwas von sich hält auf sein — möglichst jedes Jahr exponentiell wachsenden — Bonus. Natürlich verzichtet Direktor Gebrochene Lanze nicht freiwillig auf seine spritfressende Limousine. Natürlich, natürlich, natürlich... Und natürlich hatte mein Vater recht, dass die wirklichen Verbrechen diejenigen sind, die wirklich wichtigen Fortschritt aufhalten und verhindern. Und dennoch ist diese Erkenntnis nicht genug um darauf warten zu können, dass diese Fehlentwicklung wieder von der Geschichte, vom Gang der Dinge, korrigiert wird.

Hier zeigt sich immer eindeutlicher die Aufgabe der Politik in der nächsten Zukunft. Und zwar weltweit. Denn nur so können in einer globalisierten Welt globale Probleme noch angegangen werden. Und solange jedes Land so heuchlerisch bekräftigt, das Möglichste zu tun, und dann aber die regionalen Interessen der Wirtschaft zu Hause berücksichtigt und favorisiert, solange wird der Weg weiter Berg abwärts gehen. Erst wenn man sich wirklich daran machen wird, durch Solarzellen angetriebene Magnet-Bahnen für die allgemeine Mobilität zu entwickeln, wird man eine Chance haben das Problem nachhaltig lösen zu können. Und, bis dann, werden wir erst nennenswerte Resultate erreichen, wenn weltweit ein Limit der PS pro KG Leergewicht (Doktor Y, Witz verstanden? "Eine Limite der PS pro KG Leergewicht!" haha... Geschwindigkeit mal Masse? Ach... Du bist nicht mein Publikum!) eingeführt und eingefordert wird, und zwar bei den Konstrukteuren. Denn, solange wir darauf warten, dass sich Direktor Gebrochene Lanze ein sparsameres Vehikel nicht erst als Zweit- oder Drittwagen beschaffen wird, dann können wir noch lange darauf warte. Sehr lange!

Mark Raymond Cross: Leaf Gatherers In The Season Of Entropy


Ich versuche, und so wie ich und noch viel besser als ich Millionen von Menschen, meinen kleinen Beitrag am Eindämmen der Probleme zu leisten. Doch die Verantwortung kann nicht alleine bei mir und Meinesgleichen sein. Denn ich werde niemals eine Chance haben, das nächste Palmöl Debakel zu verhindern. Oder den nächsten Leck im Golf von Mexiko, selbst wenn ich nicht mehr BP tanken werde. Ah ja... Dann darf ich ja nicht vergessen, dass ich auch nicht Tamoil tanken wollte. Und beim Motoren-Öl war doch auch etwas zu berücksichtigen, oder? Nein! Das war ja das Palmöl das nicht deklariert wird, in den Produkten-Zutaten. Und was noch? Genau! Ja nicht auf Stand-By lassen, den Laptop auf den ich schreibe. Weshalb werden dann aber alle Geräte mit Stand-By Funktion gebaut und verkauft, in den letzten Jahren? Und was noch? Genau, dieses Fett in den Pommes, das Krebs verursachen kann wenn man die Pommes zu lange oder zu heiss frittiert... Was war schon wieder massgebend? Zeit oder Temperatur? Vielleicht sollte ich sie so essen, wie sie aus dem Tiefkühler kommen. In Zukunft. Wenn ich dazu bereit sein werde, auf den erreichten Fortschritt zu verzichten.

Bild von Robert ParkeHarrison