October 14, 2010

von Seelen und Wunden

Ich denke oft darüber nach, vielleicht habe ich auch schon darüber geschrieben, wie verschieden die Welt gewesen ist, die mein Grossvater verlassen hat, von der Welt in die er geboren wurde. 1898 geboren, gab es in seiner Kindheit kein fliessend Wasser und keinen Strom in den Häusern. Er hat zwei Weltkriege durchgemacht, in beiden musste er an die Front. Er hat miterlebt wie die Erziehung von Kindern, vom Riegel auf die Hände und die Bestrafung in der Ecke des Klassenzimmers, hinüber in das antiautoritäre Konzept der frühen Siebziger wechselte. Er hat die Arbeit miterlebt, die Menschen nur dank ihrer Nutztiere erledigen konnten, bis hin zu seinem Enkel der sich an einem PC mit digitaler Bildbearbeitung befasste.

Er hat viele Dinge gesehen, die sich im Laufe der Zeit zum Besseren änderten. Er hat aber auch viele neue, zuvor undenkbare Probleme aufkommen sehen. Er hat es geschafft, nicht "den guten alten Zeiten" nachzutrauern, auch nicht der Nachkriegszeit mit dem wirtschaftlichen Aufschwung. Er hat ein mehr als 90 jähriges Leben lang gesehen, wie der Mensch Mensch ist und, bei aller Veränderung in der Welt und im Lebensstil der Menschen, wusste er dass der Mensch eigentlich immer der Selbe ist. Er ist zu den unglaublichsten Dingen fähig: zu den grössten Errungenschaften und den tapfersten Heldentaten, wie aber auch zu den abscheulichsten Verbrechen.

Mein Grossvater hat mir einmal von dem "Grossen Marsch" erzählt, als er zusammen mit zehntausenden anderer Soldaten in Russland einmarschierte und in richtung Moskau zog. Er hat bekannte und sogar Freunde durch Erschöpfung fallen sehen und ist dennoch weitergelaufen, wie jeder andere auch, denn anhalten heisste vor Kälte sterben. Wo die Männer kaum noch in der Lage waren sich selber an das nächste Ziel zu befördern war jede, auch nur so kleine Hilfe an den Nächsten eine Sache der Unmöglichkeit. Mit der festen Entschlossenheit keinen Menschen zu töten, kam er aus dem einen Krieg als einer der aller ersten Verletzen aus der Schlacht und aus dem anderen Krieg in Gefangenschaft bei den Russen. Ein Neffe von ihm, Arzt von Beruf, kümmerte sich in einem deutschen Gefangenenlager um die Gesundheit russischer Soldaten. Die Russen, die seinen Onkel gefangen hielten. Die Russen, vor denen man alles, aber wirklich alles, verstecken musste was auch nur im Entferntesten an Alkohol erinnern konnte: Sie kamen dann zu ihm, mit ihren inneren Verletzungen, wenn sie wieder einmal Brennsprit oder sonst was getrunken hatten.

Es muss für uns, die weder einen dieser Kriege noch die Gefangenenlager im ehemaligen Jugoslawien noch eine sonstige von Menschen erschaffene Höllen-Vorhalle gesehen haben, unvorstellbar sein, was diese Menschen durchgemacht haben. Meine Mutter, die zurückgeblieben war und all die Monate mit den nächtlichen Sirenen und den Bombardierungen miterlebte, die Nacht um Nacht im Luftschutzraum verbrachte während draussen die Stadt jeden Morgen ein bisschen mehr in Trümmern lag, bis zu Schluss praktisch nichts mehr da war, meine Mutter begegnete ihrem Vater auf der Strasse, als dieser nach Kriegsende aus der Gefangenschaft zurück nach Hause kam. Sie begegnete ihrem Vater, doch sie erkannte ihn nicht. So sehr war er von der Gefangenschaft gezeichnet. Es sind andere Kinder gewesen, Altersgenossen meiner Mutter, die sie auf diese Gestalt aufmerksam gemacht haben...

Und dennoch, bei keinem dieser drei Verwandten habe ich jemals das Gefühl gehabt, sie wären durch ihre Erlebnisse tief in ihrer Seele verletzt worden. Ich möchte mir nicht anmassen zu wissen, welchen Schrecken sie erleben mussten und welche Wunden dieser hinterlassen hat doch, wenn sie davon erzählten, habe ich nie den Eindruck gehabt, sie seien an dem fast zerbrochen in dem was ihr tiefstes Wesen ausmacht. Mein Grossvater erzählte mir davon, wie viele Betroffene, um dazu beizutragen, dass wir nicht vergessen wozu der Mensch fähig sein kann. Er erzählte mir davon, um mir klar zu machen, in welch unglaublich privilegierte Lage ich mich befinden würde, aber nicht um mir damit ein schlechtes Gewissen zu machen, nein, um in mir das Bewusstsein dafür zu wecken, was mir alles geschenkt wurde. Um es würdigen zu können.

Ich habe meinen Opa als weniger vom Leben gezeichnet empfunden, als zum Beispiel mein Vater, der sozusagen wohlbehütet in Zürich gross geworden ist. Bei all dem unbeschreiblichen Leid, den mein Opa erlebte, irgendwie muss ihm ein schlimmes Erlebnis erspart worden sein, dass ihn zutiefst erschütterte. Ich weiss nicht wie ich es beschreiben soll... Er hat um das nackte Überleben gekämpft, er hat gehungert, er hat Freunde verloren, er hat den Wahnsinn des Kriegs-Gemetzel erlebt, und dennoch ist er als ganzer Mann zurück zu seiner Tochter. Vielleicht sollte ich von meinem Vater erzählen um klar zu machen was ich ausdrücken möchte.

Ich werde nie vergessen wie mir mein Vater davon erzählte, wie im seine Mutter viel Geld anvertraute, Geld das zu jener Zeit sehr knapp war, und wie meinem Vater dieses durch seine Unachtsamkeit abhanden kam. Er sprach davon, wie er zurück nach Hause ging und wie seine Mutter, aus schierem Kummer darüber wie es weitergehen sollte, zu weinen begann. Ich war damals ziemlich unsicher darüber, wie mein Leben weitergehen und was aus mir werden sollte und auch deshalb glaube ich, hat er mir dies erzählt um mich darauf aufmerksam zu machen, was Unaufmerksamkeit für schlimme Folgen haben kann. Er hat aber kein einziges explizites Wort darüber gesagt, keine Mahnung, keine düstere Prognose für meine Zukunft, nichts, er hat einfach nur erzählt was ihm widerfahren war. Doch, als er diese inzwischen schon mehr als 60 Jahre zurückliegende Geschichte erzählte, ist für mich das Eindrücklichste gewesen wie sie mein Vater offensichtlich sein Leben lang mit sich tragen musste, als schwere Bürde, wie Präsent sie nach so langer Zeit noch war. Ich glaube es hat ihn fast das Herz zerbrochen, was er "angestellt" hatte, und die Schuldgefühle konnte er nie wirklich überwinden.


Autor unbekannt


Wenn ich nun die Folgen der erlebten Ereignisse auf meinen Grossvater und auf meinen Vater vergleiche, da ist es für mich offensichtlich wie Letztere grösseren Schaden davon tragen musste, obwohl mein Opa in die wahrscheinlichst schlimmsten historischen Ereignisse der Moderne verwickelt war. Dies würde bedeuten, dass die seelische Wunden, die ein Mensch in sich trägt, nicht dem Entsprechen müssen, wie die Geschichte oder die Mitmenschen die Ereignisse werten wird.

So kann ich mir schwer vorstellen, was eine Bekannte von mir durchgemacht hat nachdem man ihr, nach einer Abtreibung in einem Schwellenland, wahrscheinlich als "erziehrische Massnahme" das leblose Embryo zeigte das sie gerade noch in sich trug, oder was davon übrig blieb. Ziemlich sicher ist, dass sie dieses Ereignis auch ihr Leben lang mit sich wird tragen müssen, völlig unabhängig davon ob und welche Kämpfe sie mit sich selbst austragen musste, um solch einen Entscheid zu treffen.

Nach den Erzählungen meiner beiden Vorfahren und nach meiner eigenen Erfahrung, wundert es mich inzwischen auch wenig, dass ich praktisch unbeschadet eine bewaffnete Entführung und eine geladene Waffe an der Schläfe überstanden habe, jedoch wirklich fast zugrunde ging, wegen den Ereignissen in der Harten Klinik. Denn dort, habe ich nicht eine Gruppe Taugenichts erlebt, die ein Risiko eingehen um ihr Leben etwas bequemer zu gestalten, dort habe ich Profis getroffen, denen ich vertraut habe, die nicht davor zurückgeschreckt sind, vor den Augen der Bundespolizei mich psychisch fertig zu machen, konsequent, über mehrere Wochen, und ohne Rücksicht auf Verluste. Man schreckte nicht einmal davor zurück, nach dem ganzen Debakel in der Klinik selbst, noch die Schuld von sich weisen zu wollen, trotz besserem Wissen! Ja, obwohl man genau nachvollziehen konnte was mit mir geschehen war, hat man noch versucht die Polizei für die Schäden verantwortlich zu machen, natürlich meine Ex-Frau, und weiss der Geier wen sonst noch alles. Da man mich 24 Std. beobachtete, fühlte man sich nicht einmal bemüht, meine Selbstmord-Gedanken ernst zu nehmen und darauf einzugehen, nein... Ich kann mir so gut vorstellen wie man in der Klinik sagte, mir könne ja eh nichts geschehen.

Bevor ich euch eine Frage stelle, mache ich euch einen Vorschlag, ihr kleinen Möchtegern von weissen Kitteln: Da mir ja, wie ihr wahrscheinlich gesagt habt, zu keiner Zeit etwas geschehen konnte, mache ich euch den Vorschlag, einzeln, je eine Viertelstunde zusammen mit mir auf meinem Balkon im 5. Stock zu verbringen. Ich und der jeweilige Arzt alleine, 15 kurze Minuten. Kann ja eh nichts geschehen, oder? Die Reihenfolge könnt ihr selbst auswählen, Doktor Y, Doktor NO und Direktor Lanzy... Die Ladies lassen wir für dies Mal aus der Geschichte. Einverstanden?

Und jetzt die Frage, die ich euch stellen möchte. Nach dem was meine Vorfahren erleben mussten, im benachbarten Deutschland, nach dem was Europa in jüngster Vergangenheit durchmachen musste, nach dem was die Jugend heute schon für sich alleine an Identitätsfindungs- und allgemeine Probleme hat, wäre es wirklich zu viel verlangt gewesen, einmal eine Generation zu haben, die nicht auf irgend eine Weise traumatisiert ist? Wäre dies wirklich zu viel verlangt, you crazy little bastards?