October 14, 2010

von Seelen und Wunden

Ich denke oft darüber nach, vielleicht habe ich auch schon darüber geschrieben, wie verschieden die Welt gewesen ist, die mein Grossvater verlassen hat, von der Welt in die er geboren wurde. 1898 geboren, gab es in seiner Kindheit kein fliessend Wasser und keinen Strom in den Häusern. Er hat zwei Weltkriege durchgemacht, in beiden musste er an die Front. Er hat miterlebt wie die Erziehung von Kindern, vom Riegel auf die Hände und die Bestrafung in der Ecke des Klassenzimmers, hinüber in das antiautoritäre Konzept der frühen Siebziger wechselte. Er hat die Arbeit miterlebt, die Menschen nur dank ihrer Nutztiere erledigen konnten, bis hin zu seinem Enkel der sich an einem PC mit digitaler Bildbearbeitung befasste.

Er hat viele Dinge gesehen, die sich im Laufe der Zeit zum Besseren änderten. Er hat aber auch viele neue, zuvor undenkbare Probleme aufkommen sehen. Er hat es geschafft, nicht "den guten alten Zeiten" nachzutrauern, auch nicht der Nachkriegszeit mit dem wirtschaftlichen Aufschwung. Er hat ein mehr als 90 jähriges Leben lang gesehen, wie der Mensch Mensch ist und, bei aller Veränderung in der Welt und im Lebensstil der Menschen, wusste er dass der Mensch eigentlich immer der Selbe ist. Er ist zu den unglaublichsten Dingen fähig: zu den grössten Errungenschaften und den tapfersten Heldentaten, wie aber auch zu den abscheulichsten Verbrechen.

Mein Grossvater hat mir einmal von dem "Grossen Marsch" erzählt, als er zusammen mit zehntausenden anderer Soldaten in Russland einmarschierte und in richtung Moskau zog. Er hat bekannte und sogar Freunde durch Erschöpfung fallen sehen und ist dennoch weitergelaufen, wie jeder andere auch, denn anhalten heisste vor Kälte sterben. Wo die Männer kaum noch in der Lage waren sich selber an das nächste Ziel zu befördern war jede, auch nur so kleine Hilfe an den Nächsten eine Sache der Unmöglichkeit. Mit der festen Entschlossenheit keinen Menschen zu töten, kam er aus dem einen Krieg als einer der aller ersten Verletzen aus der Schlacht und aus dem anderen Krieg in Gefangenschaft bei den Russen. Ein Neffe von ihm, Arzt von Beruf, kümmerte sich in einem deutschen Gefangenenlager um die Gesundheit russischer Soldaten. Die Russen, die seinen Onkel gefangen hielten. Die Russen, vor denen man alles, aber wirklich alles, verstecken musste was auch nur im Entferntesten an Alkohol erinnern konnte: Sie kamen dann zu ihm, mit ihren inneren Verletzungen, wenn sie wieder einmal Brennsprit oder sonst was getrunken hatten.

Es muss für uns, die weder einen dieser Kriege noch die Gefangenenlager im ehemaligen Jugoslawien noch eine sonstige von Menschen erschaffene Höllen-Vorhalle gesehen haben, unvorstellbar sein, was diese Menschen durchgemacht haben. Meine Mutter, die zurückgeblieben war und all die Monate mit den nächtlichen Sirenen und den Bombardierungen miterlebte, die Nacht um Nacht im Luftschutzraum verbrachte während draussen die Stadt jeden Morgen ein bisschen mehr in Trümmern lag, bis zu Schluss praktisch nichts mehr da war, meine Mutter begegnete ihrem Vater auf der Strasse, als dieser nach Kriegsende aus der Gefangenschaft zurück nach Hause kam. Sie begegnete ihrem Vater, doch sie erkannte ihn nicht. So sehr war er von der Gefangenschaft gezeichnet. Es sind andere Kinder gewesen, Altersgenossen meiner Mutter, die sie auf diese Gestalt aufmerksam gemacht haben...

Und dennoch, bei keinem dieser drei Verwandten habe ich jemals das Gefühl gehabt, sie wären durch ihre Erlebnisse tief in ihrer Seele verletzt worden. Ich möchte mir nicht anmassen zu wissen, welchen Schrecken sie erleben mussten und welche Wunden dieser hinterlassen hat doch, wenn sie davon erzählten, habe ich nie den Eindruck gehabt, sie seien an dem fast zerbrochen in dem was ihr tiefstes Wesen ausmacht. Mein Grossvater erzählte mir davon, wie viele Betroffene, um dazu beizutragen, dass wir nicht vergessen wozu der Mensch fähig sein kann. Er erzählte mir davon, um mir klar zu machen, in welch unglaublich privilegierte Lage ich mich befinden würde, aber nicht um mir damit ein schlechtes Gewissen zu machen, nein, um in mir das Bewusstsein dafür zu wecken, was mir alles geschenkt wurde. Um es würdigen zu können.

Ich habe meinen Opa als weniger vom Leben gezeichnet empfunden, als zum Beispiel mein Vater, der sozusagen wohlbehütet in Zürich gross geworden ist. Bei all dem unbeschreiblichen Leid, den mein Opa erlebte, irgendwie muss ihm ein schlimmes Erlebnis erspart worden sein, dass ihn zutiefst erschütterte. Ich weiss nicht wie ich es beschreiben soll... Er hat um das nackte Überleben gekämpft, er hat gehungert, er hat Freunde verloren, er hat den Wahnsinn des Kriegs-Gemetzel erlebt, und dennoch ist er als ganzer Mann zurück zu seiner Tochter. Vielleicht sollte ich von meinem Vater erzählen um klar zu machen was ich ausdrücken möchte.

Ich werde nie vergessen wie mir mein Vater davon erzählte, wie im seine Mutter viel Geld anvertraute, Geld das zu jener Zeit sehr knapp war, und wie meinem Vater dieses durch seine Unachtsamkeit abhanden kam. Er sprach davon, wie er zurück nach Hause ging und wie seine Mutter, aus schierem Kummer darüber wie es weitergehen sollte, zu weinen begann. Ich war damals ziemlich unsicher darüber, wie mein Leben weitergehen und was aus mir werden sollte und auch deshalb glaube ich, hat er mir dies erzählt um mich darauf aufmerksam zu machen, was Unaufmerksamkeit für schlimme Folgen haben kann. Er hat aber kein einziges explizites Wort darüber gesagt, keine Mahnung, keine düstere Prognose für meine Zukunft, nichts, er hat einfach nur erzählt was ihm widerfahren war. Doch, als er diese inzwischen schon mehr als 60 Jahre zurückliegende Geschichte erzählte, ist für mich das Eindrücklichste gewesen wie sie mein Vater offensichtlich sein Leben lang mit sich tragen musste, als schwere Bürde, wie Präsent sie nach so langer Zeit noch war. Ich glaube es hat ihn fast das Herz zerbrochen, was er "angestellt" hatte, und die Schuldgefühle konnte er nie wirklich überwinden.


Autor unbekannt


Wenn ich nun die Folgen der erlebten Ereignisse auf meinen Grossvater und auf meinen Vater vergleiche, da ist es für mich offensichtlich wie Letztere grösseren Schaden davon tragen musste, obwohl mein Opa in die wahrscheinlichst schlimmsten historischen Ereignisse der Moderne verwickelt war. Dies würde bedeuten, dass die seelische Wunden, die ein Mensch in sich trägt, nicht dem Entsprechen müssen, wie die Geschichte oder die Mitmenschen die Ereignisse werten wird.

So kann ich mir schwer vorstellen, was eine Bekannte von mir durchgemacht hat nachdem man ihr, nach einer Abtreibung in einem Schwellenland, wahrscheinlich als "erziehrische Massnahme" das leblose Embryo zeigte das sie gerade noch in sich trug, oder was davon übrig blieb. Ziemlich sicher ist, dass sie dieses Ereignis auch ihr Leben lang mit sich wird tragen müssen, völlig unabhängig davon ob und welche Kämpfe sie mit sich selbst austragen musste, um solch einen Entscheid zu treffen.

Nach den Erzählungen meiner beiden Vorfahren und nach meiner eigenen Erfahrung, wundert es mich inzwischen auch wenig, dass ich praktisch unbeschadet eine bewaffnete Entführung und eine geladene Waffe an der Schläfe überstanden habe, jedoch wirklich fast zugrunde ging, wegen den Ereignissen in der Harten Klinik. Denn dort, habe ich nicht eine Gruppe Taugenichts erlebt, die ein Risiko eingehen um ihr Leben etwas bequemer zu gestalten, dort habe ich Profis getroffen, denen ich vertraut habe, die nicht davor zurückgeschreckt sind, vor den Augen der Bundespolizei mich psychisch fertig zu machen, konsequent, über mehrere Wochen, und ohne Rücksicht auf Verluste. Man schreckte nicht einmal davor zurück, nach dem ganzen Debakel in der Klinik selbst, noch die Schuld von sich weisen zu wollen, trotz besserem Wissen! Ja, obwohl man genau nachvollziehen konnte was mit mir geschehen war, hat man noch versucht die Polizei für die Schäden verantwortlich zu machen, natürlich meine Ex-Frau, und weiss der Geier wen sonst noch alles. Da man mich 24 Std. beobachtete, fühlte man sich nicht einmal bemüht, meine Selbstmord-Gedanken ernst zu nehmen und darauf einzugehen, nein... Ich kann mir so gut vorstellen wie man in der Klinik sagte, mir könne ja eh nichts geschehen.

Bevor ich euch eine Frage stelle, mache ich euch einen Vorschlag, ihr kleinen Möchtegern von weissen Kitteln: Da mir ja, wie ihr wahrscheinlich gesagt habt, zu keiner Zeit etwas geschehen konnte, mache ich euch den Vorschlag, einzeln, je eine Viertelstunde zusammen mit mir auf meinem Balkon im 5. Stock zu verbringen. Ich und der jeweilige Arzt alleine, 15 kurze Minuten. Kann ja eh nichts geschehen, oder? Die Reihenfolge könnt ihr selbst auswählen, Doktor Y, Doktor NO und Direktor Lanzy... Die Ladies lassen wir für dies Mal aus der Geschichte. Einverstanden?

Und jetzt die Frage, die ich euch stellen möchte. Nach dem was meine Vorfahren erleben mussten, im benachbarten Deutschland, nach dem was Europa in jüngster Vergangenheit durchmachen musste, nach dem was die Jugend heute schon für sich alleine an Identitätsfindungs- und allgemeine Probleme hat, wäre es wirklich zu viel verlangt gewesen, einmal eine Generation zu haben, die nicht auf irgend eine Weise traumatisiert ist? Wäre dies wirklich zu viel verlangt, you crazy little bastards?

ehrlichkeit

 
Ehrlichkeit 1
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In der Harten Klinik habe ich bei zwei Gelegenheiten diesen Satz gehört
Und nun die wahrscheinlich ehrlichste Frage heute.
Dann folgte die Frage danach, ob ich weiterhin die Situation ohne Drogen werde meistern können. Beide Male kam diese Frage nach einem längeren Gespräch mit einem Pfleger, nach dutzenden von Fragen. Einmal ist es Italo gewesen, das zweite Mal war es der Pfleger der von den 2 Agenten sprach.

Mit Italo hatte ich ein längeres Gespräch über meine Ehefrau, die bevorstehenden Examen die sie in der Klinik machen musste — wobei Italo die Bemerkung machte, dass viele Frauen die verlassen werden solche Leiden erfinden würden, um den Partner unter Druck zu setzen — über die Junge Dame, über die Persönlichkeitsstörung Borderline, über meine Absichten für die nächste Zukunft, usw. Dann sagte er, eben, jetzt würde die wahrscheinlich ehrlichste Frage des Abends folgen. Dann fragte er mich, ob ich das Gefühl hätte, den Druck weiterhin ohne Drogen standhalten zu können. Ich antwortete, ich wisse es nicht. Für den Moment ja, sonst hätte ich ja jetzt mit ihm darüber gesprochen.

Kurz vor „Austritt“ aus der Harten Klinik, als ich noch der Schatten meiner selbst war, hatte ich ein Gespräch mit diesem anderen Pfleger. Dabei fragte er auch nach meinem Frauenbild und nach meinem Mannsbild. Er fragte mich nach meiner Beziehung zu meinem Bruder aus. Er fragte mich nach meinen Gefühlen ihm gegenüber aus. Und er wunderte sich, dass ich keine Wut sondern eher Mitgefühl und Trauer für ihn empfand. Dann folgte die wahrscheinlich ehrlichste Frage an diesem heutigen Nachmittag. Er erkundigte sich danach, ob ich es schaffen würde, ohne Drogen klar zu kommen. Zur Zeit ja, doch wie wird es in Zukunft aussehen?


Eins von inzwischen unzähligen Beispiele von „riesigen Zufälle“, die mir ab der Harten Klinik wiederkehren sollten. Ich hoffe doch sehr, besonders für Italo und das Vertrauen das ich in ihm hatte, dass zumindest dieser Zufall ein Hinweis für mich sein sollte. Dass in dem ganzen Wahnsinn der sich in der Harten Klinik abgespielt hat, dies ein kleiner Versuch gewesen ist, mir ein wenig Sinn in dem Unsinn zu übermitteln. Ich hoffe es... ganz ehrlich.

Bild von David Lachapelle



Ehrlichkeit 2
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Es ist etwas mehr als 1 Jahr her, dass ich nach Möglichkeiten für meinen Umzug suchte, weg von der Wohnung mit meiner Ex-Frau. Ich fragte einen Bekannten, der mir einen Namen gab: Es handelte sich dabei um eine Gruppe Leute die aus einem Christlichen Rehabilitationszentrum im Kanton Glarus mehrere kleine Unternehmen gegründet hatten, darunter eine Transport-Firma. Der Bekannte selbst war schon dort gewesen und hatte eine Zeit in diesem Zentrum verbracht. Er konnte diese Leute nur empfehlen.

Doktor Gassenjoe war auch in der Nähe. Als ich ihm von diesem Tipp erzählte, meinte er dazu
Nein... Das ist so 'ne Sache mit Junkies! Ich besorge dir eine andere Adresse.
Das ist, zur Erinnerung, der Arzt der Kontakt & Anlaufstellen der Stadt Zürich, der dort Milieu-Arbeit für Drogensüchtige leistet und somit oft das letzte Bindeglied für diese Menschen ist, zwischen ärztlicher Versorgung und Verwahrlosung. Es ist der Arzt, der mich zur Heroin-Abgabe schickte als ich ihm im Gespräch gesagt hatte, ich bräuchte einen guten Therapeuten, dem ich vertrauen könne. Es ist der Arzt der, als ich nach der Villa am Hönggerberg in Tränen in seinem Büro sass und fragte wer nun eigentlich der für mich verantwortliche Psychiater oder Therapeut sei, ausrief
Das ist doch jetzt egal!
Dieser Arzt also meinte abwertend zu einer Firma, durch ein Christliches Rehabilitationszentrum im Kanton Glarus entstanden, das sei ja nichts als so eine Junkie-Sache. Vielleicht wollte er ja mich damit parodieren. Ich hoffe es... ganz ehrlich. Denn es wäre noch schlimmer, wenn er wirklich mit einer solchen Einstellung Tag für Tag an die Arbeit gehen würde. Doch auch wenn er damit mich parodieren wollte, ist das nicht gerade ein Zeugnis von Intelligenz- und Durchblick-Armut? Denn, diese vermeintliche Parodie meiner Wenigkeit würde auf völlig falschen Tatsachen basieren, nämlich auf der verdrehten Lügen-Version der Harten Klinik. Und ich hoffe für diesen Arzt, dass er sich nicht in einer solch peinlichen Lage hat bringen lassen, wie schon andere vor ihm. Denn ich hatte noch eine gute Meinung von ihm, damals, als ich ihm noch das zuschrieb was eigentlich meine Leistung gewesen ist: Nämlich auf einen Arzt zu hören und mich auf einen Aufenthalt in der Villa am Hönggerberg einzulassen, trotz der schlimmen Erfahrung die ich ein halbes Jahr zuvor in der Harten Klinik erleiden musste.

Ich hoffe für Doktor Gessenjoe, dass er nicht wusste was mit mir in der Villa am Hönggerberg geschehen sollte, als er mich darauf ansprach an diesem Morgen in Zürich. Ich hoffe es für ihn... ganz ehrlich.

Autor unbekannt


Ehrlichkeit 3
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Ich sitze eines Tages im K&A und sage zu Emmy wie es doch der pure Wahnsinn sei, dass ich nicht mehr ins K&A dürfe (respektive dass ich nicht mehr dort mein Heroin konsumieren dürfe). Er widerspricht und sagt, mit dieser Medikamenten-Kombination würden man mir den Konsum im K&A Oerlikon nicht mehr erlauben: Vom Arzt so verordnet. Doktor Gassenjoe hat also diese Anordnung rausgegeben? Er ist ja der verantwortliche Arzt für alle städtischen K&As. Komisch irgendwie also, dass man in den übrigen K&As absolut nichts von diesem von Doktor Gassenjoe verordneten Verbot wisse — dort kann ich munter mein Heroin konsumieren, wie eh und je, obwohl Doktor Gassenjoe mich auch schon in diesen anderen K&As gesehen hat. Whatever...

Ich frage Emmy weshalb denn solch ein Verbot. Er sagt, es sei eine Frage der Verantwortung: Sollte mir etwas zustossen und ich würde zum Beispiel im K&A Oerlikon sterben, dann wäre die Verantwortung bei ihnen, den Sozialarbeitern und dem Arzt. Und da sie nun von meiner Medikamenten-Kombination wüssten, könnten sie das Risiko eines Zwischenfalls nicht mehr in Kauf nehmen. Nun, ausser der Tatsache dass der selbe Arzt dieses selbe Risiko in den anderen K&As anscheinend — und ohne das geringste Problem damit — auf sich nehmen kann, frage ich Emmy ob ihm bewusst sei, dass wenn ich nicht bei ihm (unter den Augen von Profis die mir eventuell helfen könnten) konsumieren dürfe, ich einfach ein paar Hundert Meter weiter ziehen würde um auf den öffentlichen Toiletten des Bahnhofs Oerlikon zu konsumieren. Ich bemerke, dass dort kein Emmy anwesend wäre, der im Falle eines Zwischenfalls erste Hilfe leisten könnte. Ich würde also auf der öffentlichen Toilette ohne Hilfe und ohne Chance sterben, anstatt vielleicht von einem Emmy gerettet werden zu können. Ich frage ihn ob das wirklich im Sinne einer solchen Institution sein könne. Er antwortet nichts.

Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass ich irgendwann wieder konsumieren darf, auch in Oerlikon. Ich weiss nicht welche Anweisungen und Unterlagen da zirkuliert haben, doch plötzlich darf ich wieder auch in Oerlikon. Irgendwie komisch, oder? Plötzlich darf man wieder das Risiko auf sich nehmen, einen Zwischenfall mit mir in Kauf zu nehmen? Welche Versicherung hat hier was gesagt? Seit es mir wieder erlaubt ist, dort zu konsumieren, bin ich ein Klient wie jeder andere: Es wird bei mir überhaupt nicht mehr aufgepasst als bei anderen. Interessant wie viele Gedanken und Sorgen man sich doch im K&A Oerlikon macht, um mein Leben. Oder ist es vielleicht viel interessanter, welche Gedanken man sich dort so macht?

Jedenfalls frage ich nochmals Emmy, ob es seiner Meinung nach denn besser sei, wenn ich auf der Toilette sterben würde. Er sagt dazu nur
So lautet der Beschluss und daran muss ich mich halten.
Danke für so viel Ehrlichkeit, Emmy... ganz ehrlich.

Autor unbekannt
 
 

October 12, 2010

Lanzy & Joe

 
BREAKING NEWS
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Es hat mehrere legendäre Konzerte in Gefängnisse gegeben, verschiedene wurden uns auch durch bekannte Hollywood-Streifen überliefert. Diese Gewohnheit ist inzwischen aber seit Jahrzehnte ausser Mode gekommen und obwohl sich noch verschiedene Hip-Hop Stars zeitweilig in Gefängnissen aufgehalten haben, ist kein Konzert von ihnen bekannt. Wahrscheinlich auch deswegen, weil in modernen amerikanischen Gefängnisse nicht einmal mehr Hollywood es schafft, etwas Romantik und Kitsch zu zaubern.

Im Gegenzug hat man aber in Zürich einen neuen Trend erfunden. Nachdem bekannt wurde, dass man in der Harten Klinik einen Musik-Liebhaber fertig gemacht hatte, wollte die Direktion unbedingt etwas tun um das Image der Institution zu verbessern. Und so kam die Zusammenarbeit mit Joe (musste ja fast sein...) Cocker zustande: Direktor Lanzy hatte einen Halluzinogenen Trip während er den Song "Lie To Me" von Joe Cocker hörte — durch welche Substanz oder welche psychische Störung die Halluzinationen hervorgerufen wurden ist nicht bekannt. Er sah förmlich wie sich die Welt veränderte, genau auf die Art die gerade von jemandem beschrieben wurde. Sagte jemand zu ihm, er wäre wie ein Kind, da verwandelte er sich auch schon in das Kind das er mal gewesen ist. Sagte er dann, sein Auto habe fünfhundert Pferde-Stärken, da standen plötzlich fünfhundert Pferde vor seinem Schlitten. Jedenfalls realisierte er augenblicklich welche Kraft Musik haben kann und wollte unbedingt seinen ab nun allerliebsten Sänger in seiner Klinik haben, für ein Konzert.

Joe Cocker, der ein Mann von Welt ist, wollte versuchen etwas Gutes zu tun und dachte an die vielen Unglücklichen, die hinter den Mauern von Direktor Lanzy verweilen: Er wollte seinen Anteil dazu beitragen, ihnen den Aufenthalt etwas leichter zu machen. Ein paar frohe und lächelnde Gesichter dort drinnen wären das Schönste für ihn gewesen. Also erklärte sich Joe ohne lang zu überlegen einverstanden mit Direktor Lanzy an einem Projekt zu arbeiten.

Und so kam es, dass das letzte, gerade veröffentlichte Album von Joe Cocker, "Hard Knocks" heisst. Weshalb schlussendlich Joe gerade diesen Titel gewählt hat ist nicht bekannt. Wir hoffen doch sehr, dass er nicht selbst schlechte Erfahrungen innerhalb der Harten Klinik machen musste. Bekannt wurde jedenfalls nichts, von einem Zwischenfall während Joe's Konzert in der Klinik. Wir wollen nur hoffen, dass Direktor Lanzy nicht die ganze Welt belogen hat. Und irgendwelche Papiere verschwinden liess...

Wie auch immer, wir wollen Direktor Lanzy zu seinen Halluzinationen herzlich glückwünschen. Und seiner neuen Leidenschaft für komische Substanzen und Musik. Es ist nie zu spät, Lanzy, es ist nie zu spät...



Bild von Gustavo Olive

Die ist die Darstellung einer von Lanzy's Halluzinationen, die ihm angeblich ermöglichte direkt mit Gott zu sprechen (vorne links im Bild, den Angaben von Direktor Lanzy zufolge). Das Auge oben im Himmel soll angeblich seine Mutter sein, die ihn dauern bewacht und zu kontrollieren versucht, und die über ihn richtet.

NACHTRAG
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Direktor Gebrochene Lanze verlangte energischst eine Richtigstellung.
Das Auge im Himmel sei keinesfalls seine Mutter gewesen — eine sehr liebesvolle Frau die ihren Sohn immer in allem unterstüzt hat und ihm immer ein Vorbild und eine vertraute Person gewesen ist. Beim Auge handelt es sich hingegen um den Vater, der durch seine nicht erfüllbaren Erwartungen einen prägenden Einfluss auf den Sohn hatte.
Soweit die Richtigstellung. Jegliche Fachkräfte aus dem Bereich Psychologie können ihre eigene Schlüsse daraus ziehen. Ich selbst verstehe leider ziemlich nichts davon.


Hier sind weitere Beiträge der Serie "Breaking News" zu finden
 
 

Mission: Mensch sein

 
Der Film "The Mission" von Roland Joffé aus dem Jahr 1986, mit Robert De Niro, Jeremy Irons und dem Soundtrack von Ennio Morricone, war und bleibt einer der für mich besten und stärksten Filme über das Dilemma des Menschen in der modernen Welt, in seiner ursprünglichsten Form, über den Gegensatz zwischen menschlichem Sein und sozialem Wesen. Der Mensch, zwischen Tier und Gott, auf seiner Suche nach sich selbst — wo er schon einmal das Verderben in der eigenen Familie und das eigene Unglück heraufbeschwören kann — muss sich dann noch mit all den Ideen und Konstrukten unserer Gesellschaft auseinandersetzen und damit zurecht kommen. Der Mensch, der "teuflisches" meistens in Seinesgleichen entdecken muss oder in den Institutionen und Definitionen die er selbst geschaffen hat (meistens im Glaube damit Ordnung ins Chaos bringen zu können) und die nun selbständig zu werden scheinen und plötzlich keinen Respekt und Erbarmen mehr für das Schicksal eines Einzelnen haben können.

Szene aus dem Film "The Mission"


Darüber hinaus können wir uns vorstellen wie sehr wir uns, in unserer westlichen Gesellschaft, immer mehr vor tiefgründigen Erfahrungen schützen. Nach 2 Weltkriegen kein unberechtigter Wunsch. Dennoch müssen wir uns nun die Frage stellen, wie es dem modernen Menschen möglich sein soll, prägende Erfahrungen erleben zu können, ohne sich zur Fremdenlegion zu melden. Wie können unsere Kinder, in all dem Anstreben nach dem "Funktionieren", noch ihre Rand- und Grenzerfahrungen machen, die der Mensch irgendwie doch zu brauchen scheint? Was bietet unsere Gesellschaft dazu, ausser Adrenalin-Sportarten und Drogen-Exzesse? Ist Selbstfindung noch möglich? Oder ist sie überhaupt noch erwünscht? Oder führt die Suche danach immer öfters in die Psychiatrie — und zwar dann besonders, wenn die Suche zuerst einmal wiederholt nicht erfolgreich ist und an irgendwelchen innerlichen oder äusserlichen Hindernisse scheitert?

Kann eine Gesellschaft, um das Kapital herum organisiert, für den Menschen ein lebenswertes Leben bieten? Oder muss sich der Mensch dieser Organisation unterordnen, wie schon seit hunderten von Jahren? Diese Frage ist heute, so glaube ich, wichtiger denn je. Sie ist nicht mit den grossen Utopien des 20. Jahrhunderts gestorben, denn die Umsetzung dieser fabd einzig den Weg der Gewalt. Heute sind wir vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wirklich in der Lage uns die grundlegende Frage zu stellen, wie wir unser Leben und unser Zusammenleben organisieren möchten. Und heute haben wir Ressourcen und Energie um die Antwort selbständig und freiwillig wählen zu können. Freiwillig und ohne Zwang, langsam abder ununterbrochen. Denn, langsam sollten wir uns daran machen, in den nächsten Jahren, uns diese Frage bewusster zu stellen und nach Antworten zu suchen. Auch deswegen, um niemals mehr das tun zu müssen, was Institutionen und Konstrukte im schlimmsten Fall den einzelnen antun: Ihn Niederwalzen. Oder den Planeten. Oder irgendwas sonst... Mit welcher Einstellung gehen wir ans Werk, wenn wir nach Öl bohren? Und mit welcher, wenn wir ein Gewächshaus in Spanien bauen? Oder wenn wir unser Geld in Aktien investieren? Was sind wir alles bereit zu opfern, um an unser Ziel zu gelangen? Wen sind wir bereit zu opfern? Was alles blenden wir aus, was aber in Tat und Wahrheit mit dem zu tun hat, was wir tun? Wenn der nächste Madoff fallen wird, wovon können wir uns dann reines Gewissens distanzieren und behaupten, die Schuld läge nicht im Geringesten bei uns?

"Diese" Welt ist das, wie im Film so schön gesagt wird, was daraus gemacht wird. Was jeder einzelne von uns daraus macht.

Ein Film der, bei mir, wahrlich viele Fragen aufwirft durch die einfache Erzählung der Schicksale einiger Menschen an der Grenze zwischen unserer Gesellschaftsform und einer, die wir niemals mehr erleben werden. Sowohl Fragen über den Einzelnen und wie er für seine eigene Existenz einen Sinn zu finden versucht, wie auch Fragen über die Art in der wir zusammenleben und uns organisieren, und wie wir immer öfters uns selbst leugnen müssen, in der Annahme die "Allgemeinheit" würde eher wissen, was das Richtige sei.