April 28, 2010

was wäre wenn?

 
Hey du alte Matratze eines verfehlten Basketball-Spielers. Kommt es auch bei dir vor, Doktor Y, wenn du deinen Gedanken nachgehst, wenn du sie frei fliegen lässt, dass du dir dann versuchst vorzustellen "was wäre wenn" Mir passiert das andauernd. Wache ich in einem Hotel in Bangalore auf und sehe runter, wo sich im Hinterhof ein Security-Angestellter des Hotels seiner morgendlichen Toilette widmet, aus einem kleinen Plastik-Eimer am Boden, dann frage ich mich "was wäre wenn" ich jetzt dort unten meine Zähne putzen und er sich hier im Zimmer einen Fruchtsaft gönnen würde?

Aber dies ist noch eines der kleineren "was wäre wenn"... Es kommt nämlich auch vor, dass ich mich weltbewegende "was wäre wenn" hingebe. Zum Beispiel dem Einen, "was wäre wenn" sich die Märkte wirklich selbst reguliert hätten, wie es uns von den Neo-Liberalen versprochen wurde?



Oder "was wäre wenn" all die Technologien die man schon vor 20 Jahren kannte mit derselben Kraft vorangetrieben worden wären, die man aufgewendet hat um Kriege entstehen zu lassen? "was wäre wenn" jedes Küstenland dieser Welt es so getan hätte wie dieser Typ, der sich einen kleinen Kubus gebaut hat und darin eine billige Turbine laufen lässt (mit fast keinem Unterhaltsaufwand und -Kosten) die auf optimale Weise die Energie von kleinen, alltäglichen und gewöhnlichen Wellen benutzt, die in beiden Richtungen drehend Strom produziert?


Eine andere Art sind die "was wäre wenn" ich zur Zeit von Mussolini auf die Welt gekommen wäre. Als ich dies in Bezug zu dir durchging, kam mir sofort das Bild der Camicie Nere vor Augen — die Schwarzen Hemden — die jeden vermöbelten oder ermordeten, der nicht in Linie mit der Denkweise des Duce gewesen ist.

Oder "was wäre wenn" ich in den 70er Jahre Erwachsen geworden wäre? Ich bin dankbar, gab es zur Zeit als ich nach Zürich kam, die Möglichkeit Methadon zu beziehen. Denn Eines steht fest: Als ich bei Frau Barbéra Maier anklopfte, war ich ein ziemliches Wrack. Dank ihr und dank dem Angebot ihrer Stelle, konnte ich den Spagat zwischen Sucht-Erkrankung und Berufsleben weiter machen. In den 70er wäre ich gezwungen gewesen, entweder völlig aus der "rechtschaffenden Gesellschaft" auszusteigen und mir ein alternatives Leben zu suchen, oder mich der Drogen-Szene hingeben zu müssen.

An dieser Stelle möchte ich bemerken, dass ich eventuell Frau Maier Unrecht getan habe, mit meinem Urteil. Wenn dem so wäre, möchte ich mich einerseits entschuldigen und andererseits auf die Kollegen in der Harten Klinik verweisen. Denn es ist Tatsache, dass Anspielungen an Ereignisse gemacht wurden, die ich mit Frau Maier angesprochen habe. Es ist auch Tatsache, dass diese Anspielungen unterschwellig den Vorwurfston mit sich brachten. So kam es, bei meiner Angewohnheit des "was wäre wenn", ich nicht wusste ob diese Vorwürfe schon aus der Feder von Frau Maier stammten oder erst aus den Wahnhirne der Ärzte in der Harten Klinik entsprungen sind. Und in meiner Verzweiflung und meinem Versuch, Sinn im Sinnlosen zu verstehen, habe ich vielleicht hin und wieder übers Ziel geschossen. Was wiederum zeigt, wie sehr meine Nerven noch heute, 2 Jahre nach der Entlassung aus der Harten Klinik, blank liegen... Jedenfalls, wie gesagt, Frau Maier ist eine grosse Hilfe für mich gewesen: Das richtige Angebot im richtigen Moment. Dass unsere Zusammenarbeit zu einem Zeitpunkt endete, an dem ich noch Erwartungen hatte und Unterstützung benötigte, ist ziemlich sicher eine andere Geschichte.

Und du, alter Flohsack Doktor Y?
"was wäre wenn" ich dir Unrecht getan hätte? Schön wärs? Ja, schön wärs im Sinne, dass ich vielleicht wieder etwas Vertrauen in gewisse Aspekte des menschlichen Wesens haben könnte. Oder in bestimmte Mechanismen unserer Gesellschaft. Die Mechanismen zum Beispiel, die dazu führen dass wir uns unserer Mitmenschen entledigen, die "auf der Strecke" geblieben sind. Wie sich die Menschen heute gar nicht mehr bewusst sind, wie viele Opfer diese unsere Lebensweise gefordert hat und weiterhin fordert. Und wie dieses Thema zu einem Tabu geworden ist.

Ich habe noch einen Schönen, für uns beide, Doktor Y. "was wäre wenn" das Wort GÜTE noch einen Stellenwert in unserer Gesellschaft hätte? Was, wenn dieser Wert nicht völlig verloren gegangen wäre, völlig entfremdet, von dem was wir Tag für Tag erstreben? Früher, da sind die Menschen zumindest noch ein Mal die Woche in die Kirche, wo ihnen ein Pfarrer — zwischen zehn "du bist ein Sündiger" und sieben "der Herr wird über uns alle Urteil, wenn die Zeit gekommen ist" — zumindest ein Mal pro Woche sagte "Seid Gut zueinander. Tut Gutes." Wie oft im Lauf eines Jahres hört heute ein Pubertierender solch Worte? Und wie oft noch dazu, von jemand und in einem Kontext, den er oder sie ernst nehmen kann, als Vorbild sehen könnte?

Wie kommt es, dass wenn ich was Gutes versuche zu tun, sofort der Verdacht auf entweder irgendwelchen Hintergedanken oder fast zu bemitleidende Dummheit vermutet wird? Wie kommt es, dass wenn ich der Jungen Dame 20 Franken gebe (natürlich habe ich in ihrem Gesicht einen Ausdruck von Zwiespalt erkannt, doch ich habe dem offensichtlich nicht so grosse Bedeutung gegeben wie es schlussendlich haben sollte), wie kommt es dass es dann plötzlich heisst, ich habe sie kaufen wollen? Aus welchem kranken Schädel ist dies wieder entsprungen? Ich meine... Gibt ein 20 Jähriger einem Anderen 20 Franken, dann versucht er diesem zu helfen. Ist es ein 40 Jähriger, dann versucht er einen Menschen zu kaufen. Als ob man jemand wie die Junge Dame mit 20 Franken kaufen könnte... Dass ich nicht lache! Nicht mit 20, und auch nicht mit dem 20fachen des 20fachen. Dies wusste ich damals schon genau so, wie ich es heute weiss. Aber zurück zur GÜTE...

Wie kam es zu dieser tragischen Entwicklung, dass der Begriff von GÜTE völlig aus unserem Leben verschwand? Ich sprach gerade heute darüber und sagte, ich denke nicht einmal, dass die Menschen dies nicht möchten oder zu egoistisch geworden sind, um noch GÜTE würdigen zu können. Nein. Ich denke eher, es gab je länger je mehr keinen Platz mehr dafür in unserem Leben, in unserem Alltag. Wo jeder schon so sehr damit beschäftig ist, sein Überleben zu sichern, seine Familie zu ernähren, seiner Idee eines modernen Menschen nachzueifern, sein Gefühlhaushalt einigermassen versuchen zu bewirtschaften. Da bleibt einfach kein Gedanke mehr frei, für sowas derart "abstraktes".

Muss doch jeder schon selber sehen, wie er über die Runden kommt. Wie er zu genügend Sex und womöglich noch etwas Liebe kommt. Zu einem "angemessenen" Lohn. Zu einem Freundeskreis. Zu einer Weiterbildung. Zu einer Erziehung für seine Kinder. Zu ein paar Wochen Ferien die das ganze Jahr der Schufterei gutmachen müssen. Und womöglich noch, mit viel Glück, noch zu einem Lebenssinn...

Ich hatte einmal geschrieben — abgeschrieben — die interessantesten Menschen die ich kenne, wüssten mit 40 noch nicht was sie tun möchten. Das stimmt, aber auch nur teilweise. Es gibt glückliche Fälle von Menschen, die mit 12 genau wissen, was sie aus sich und ihrem Leben machen möchten. Diese sind dann die Ausnahmetalente die der Welt geschenkt wurden. Geschenkt dank grösster Anstrengungen und Bemühungen, Hingabe und Opferbereitschaft. Doch bei den meisten Menschen läuft das Leben nicht so, wie "am Schnürchen". Und dennoch bewegen wir uns immer mehr in die Richtung, wie es in den Staaten schon gegenwärtige Realität ist: Am besten, die Universitätswahl ist schon vor der Geburt geschehen. Am besten, schon die Vorschulzeit wird auf privatem und elitärem Boden "absolviert". Am besten, man erlaubt sich keine Fehler in den ersten 20 Jahren des eigenen Lebens. Ansonsten könnte es schwierig werden. Sehr sehr schwierig.



Und in einer Gesellschaft, die wie ein geölter Blitz in diese Richtung donnert, gibt es natürlich immer weniger Platz für GÜTE und sonstiges komisches Gemüse. Und es gibt auch immer weniger Platz für all die Menschen, die nicht mithalten können. Es gibt nicht einmal Platz, für Lebenseinschnitte, für kleine Episoden des "Versagens" im Leben eines Einzelnen, der im Grossen und Ganzen "gut funktioniert". Um zu heulen, muss ein Manager definitiv in den Keller, heute.

Ich sprach einmal mit einem Psychiatrie-Pfleger der früher in Schweizer Privat-Kliniken arbeitete. Er erzählte mir, ich würde nicht glauben welche Namen der internationalen Künstler-Szene, aber auch der Finanzwelt, der Politik, usw. er schon unter seiner Kundschaft hatte. Er machte keinen einzelnen Namen, versicherte mir aber, dass es inzwischen eine undenkbare Anzahl an Menschen gäbe und es sich dabei auch um "über jeden Verdacht stehende" Menschen handeln würde, die sich zum Beispiel regelmässig in Entziehungskur begeben würden.



Die Reichen und Mächtigen dieser Welt können es sich erlauben, ein paar Wochen all paar Jahre zu investieren, um wieder auf die Beine zu kommen. In vollkommener Anonymität. In 5 Sterne Luxus. In der Sicherheit, unter dem Deckmantel der Diskretion, bestens vor der Öffentlichkeit abgeschirmt zu werden. All diejenigen, die sich diese Angehensweise nicht leisten können, sind einer Unzahl von Dingen ausgesetzt. Und viele davon bleiben eben irgendwie irgendwann auf der Strecke.

Unsere Gesellschaft wird sich noch mit der Tatsache konfrontieren müssen, dass es Opfer dieser leistungsorientierten Mentalität gibt. Sie wird sich mit diesen Opfern müssen auseinandersetzen. Und sie entweder annehmen, sich deren wieder kümmern die vielleicht andere Stärken und Tugenden haben als solche die es ihnen erlauben, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten. Oder sie weiterhin als Tabu behandeln. Bis sie, im schlimmsten Fall, so viele sind, dass sie gar nicht mehr totgeschwiegen werden können.



Ich bin der festen Überzeugung, dass genau so wie sich die Gesellschaft mit dem Umgang von solchen Tabus auseinandersetzen muss, genau so muss der Einzelne wieder Platz in seinem Leben für Dinge wie GÜTE finden können.


Ja, Doktor Y, "was wäre wenn" man beim Zusehen was du da anstellst nicht nur ein Spiel für Erwachsene gesehen hätte, ein perfides sadistisches Spiel, sondern das absolute Gegenstück von GÜTE darin gesehen hätte? Was wäre dann wohl gewesen? Um wie viel kürzer wäre deine Zeit dann gewesen und wie viel weniger Opfer wären nun zu beklagen?

Was wäre wenn...

THE FUTURE IS UNWRITTEN
Joe Strummer