March 24, 2010

alter Mann

 
Wir waren ein Wenig gerannt, beim Ankommen war ich ziemlich ausser Atem. Die Junge Dame sprach dies an und sagte zu mir: Alter Mann!
Doch in ihren Worten war keinerlei Negatives zu hören. Sie wollte mich einzig veräppeln. Ich weiss nicht ab welchem Zeitpunkt genau die Ärzte mich für zu alt hielten, oder sie für zu jung, oder beides. Mich für zu alt, hielten sie auf jeden Fall.

Doch was die Ärzte nicht während ihrer Ausbildung gelernt haben, ist dass man in Asien Respekt vor alten Menschen hat. In Asien und anderswo. Denn... Sie haben Erfahrung.

Can't Run But == Paul Simon

But I can walk much faster!!!!!!!!!!!!




Siehe auch den Post "Experiences".

Dies war ihr erster grosser Fehler. Der Zweite war, dass sie sich keine Sekunde Zeit genommen haben, um sich wirklich damit auseinander zu setzen, mit dem was ich sagte, hörte und las. Der Bundespolizist fragte mich einmal, als ich gerade rüber auf "seine Station" auf Besuch gekommen war, was ich hören würde. "Ziemlich vieles" antwortete ich. Nein, gerade jetzt, beim Kommen. Aha... Ich gab ihm den Kopfhörer und drückte auf Play. Es lief " "Frozen" von Madonna.

Siehe auch den Post "Eiskalt".

"Schöne Musik, sehr schön" sagte er. Natürlich wusste er genau was ich am hören war, in dem Augenblick als er die Frage gestellt hatte. Aber zumindest wusste er sie zu schätzen. Und was sie darstellte.

Auch der "Pflege-Künstler" hatte mich gefragt, wie das Buch so sei, das ich am lesen war und mit mir herum trug. Ich antwortete es sei "Geil". Er schaute mich ziemlich verblüfft an. Geil? Ich zeigte ihm den Umschlag mit dem Namen der Schriftstellerin: Gail Tsukiyama. Er lächelte.

Es war das letzte Buch das ich lesen konnte, vor dem "Grounding". Danach, wurde das Lesen zuerst fast unmöglich, dann sehr schwierig, dann wieder unmöglich und so weiter. Inzwischen habe ich ein neues Buch begonnen: "Sakrileg" von Dan Brown, das Buch zum Film "The Da Vinci Code". Ein Geschichte voller Symbolik, Zeichen, Andeutungen, Verweise.


Die Art von Strategemen, welche die Junge Dame und ich benutzen mussten, um zu kommunizieren. Eine nicht-akustische Kommunikation, musste es anscheinend sein. Denn, alles was ausgesprochen wurde, wurde uns zum Verhängnis. Und so sprachen wir irgendwann über Farben und meinten damit Menschen und Gefühle. Ziemlich schnell, klappte dies zwischen uns. Eigentlich von Anfang an...

Oder sie begann Halsketten zu tragen, mit Anhängern die von Tag zu Tag ändern konnten und jeweils eine Bedeutung hatten. So hatte sie einen chinesischen Schriftzug als ich nur Bahnhof verstand, von dem was gerade am abgehen war. Oder sie hatte ein Kruzifix, als sie "ansprechbar" war und mich nicht zurückweisen würde. Oder sie hatte den Anhänger "Bad Girl" wenn sie mich runterputzen sollte.

Achmed fragte mich mal, ob ich katolisch sei, ich nehme an wegen dem Kruzifix. Oder vielleicht weil ich immer wieder hinter die Kirche ging, wo ich auf einer Bank sitzend Gott und die Welt lobpreiste. Ich betrachtete das kleine Tal an meinen Füssen: Es war, je nach Licht und Wetter, wie ein kleiner Garten Eden.

Polina Neruda: Vibrations 8

Ich antwortete, ich sei nicht katholisch, nein. Zum Glück trug die Junge Dame dennoch noch einige Male diesen Anhänger. Und ich bin, glaube ich, noch nie so glücklich gewesen, ein Kruzifix zu sehen!

Einmal, eine ganze Zeit nach dem ich aus der Harten Klinik ausgetreten war, rief ich ihre Kollegin an und fragte sie, ob sie meinte ich könne die Junge Dame anrufen, ohne sofort fertig gemacht zu werden. Sie antwortete "LET US SHINE, das musst DU wissen." Einige Tage darauf schrieb ich der Jungen Dame eine SMS "Ich sagte ich wüsste es, doch ich weiss es nicht. Denn ich weiss nicht welche Halskette du gerade am tragen bist".

Bis zu diesem Tag, muss ich noch bemerken, hatten wir kein einziges Wort über die Halsketten gewechselt. Wir hatten uns nie, in irgendeiner Form, darüber ausgetauscht. Man verstand sich einfach. Irgendwie...


Ja... Die Junge Dame hatte mich verarscht, mit ihrem Ausruf vom alten Mann. Eine andere Verarschung ging so: Ich weiss nicht mehr wie ich darauf gekommen war, aber im Gespräch mit dem Pfleger "Geissmann" sagte ich, nach dem ich auf die Akut-Station zurück versetzt wurde: "Da hat mir jemand den Finger in den Arsch gesteckt. Leider bin ich zu langsam gewesen, ich hätte ihm den Finger sonst zu gerne abgebrochen!" Gemeint war, man wundert sich, Doktor Y. Der Pfleger antwortete nur "Na, na, na...", als Zeichen der Beruhigung.

Aber ruhig bin ich gewesen. Bei meiner Ankunft. Und noch viel mehr vor meiner Ankunft, in die Harte Klinik. Diese Ruhe wollte man aber keinem meiner Bekannten gewähren, anscheinend. Mir noch viel weniger. Die Zeit der Ruhe war vorbei. Und nicht ich hatte sie zu ihrem Ende gebracht. Nicht ich.

Ich hätte die gefundene Ruhe mitnehmen wollen, hinüber in den nächsten Tag. In ein Leben in Fülle. Eine Ruhe, die man nur durch eine gewisse Erfahrung erlangen kann. So wie der alte Mann aus dem Roman von Gail Tsukiyama "Der Garten des Samurai". Matsu-San ist eigentlich kein Samurai im gewöhnlichen Sinne. Er ist eher ein "Samurai der Liebe" und der Barmherzigkeit. Karg im Umgang und im Gespräch, ist er dafür desto reicher in seinem Innern. Und sein Reichtum pflegt er mit grosser Sorgfalt und Aufwand, in Stille. Eine kontemplative und dennoch aktive Stille. Die Geschichte einer unmöglichen Liebe die möglich gemacht wird, in einer Welt voller Dogmen und Traditionen, teils auch brutale Unsitten, durch Vertrauen und Beharrlichkeit überwunden. Die Geschichte einer Botschaft an die nächste Generation, bezüglich Fehlern die sie nicht wiederholen sollte.

Und der Erzähler der Geschichte, in der ersten Person, begegnet während seiner Rekonvaleszenz Matsu-San, auf dem Weg zur Genesung, beobachtet er seine Lebensweise und darf, mit der Zeit, Teil an seinem Leben haben — was bisher praktisch niemand durfte. Die Lebensgeschichte von Matsu-San zu kennen, was hinter der Fassade sich noch alles verbirgt, seine Reichtümer teilen zu dürfen, wird ein Teil des Gesundwerdens sein. Und eine Erfahrung fürs Leben. So wie die Erkenntnis, einem anderen Menschen zu helfen, könne mehr Wert sein als alles Andere auf dieser Welt.


Dieses Buch las ich gerade, als ich von Doktor Y, aus dem Nichts, angeschossen wurde. Hätte er sich nur ein kleines Bisschen mit so Dingen beschäftigt, wäre er vielleicht zu Erkenntnis gekommen, schiessen würde rein gar nichts nützen, denn was geschehen soll wird geschehen. Oder vielleicht sogar, dass zu schiessen gar nicht nötig ist. Vielleicht hätte er mir auf meinen Weg eine kleine Hilfe geben können. Und jetzt, jetzt wären wir alle um eine schlimme Erfahrung verschont geblieben.

Wer weiss? Vielleicht wird Doktor Y ein kleines Bisschen dieser Dinge mit dem Alter zu verstehen lernen. Es wird ihm aber schwer fallen. Denn, wie eine der Kritiken zum Buch sagt: "Manchmal können Bücher die Zeit anhalten." Und dieses Buch, es hat die Zeit angehalten. Oder die Zeit hielt, als ich das Buch am Lesen war... Wer weiss das schon, so genau?

Die Junge Dame, sie hat ihm das voraus: Sie muss nicht älter werden, um zu verstehen wann ein Herz wie ein kleiner, schöner Garten ist. Oder wie ein schönes Gemälde. Oder wie eine ganze Welt.