March 14, 2009

Joe die Leinwand

Plötzlich hatte dieser Joe Abfall seinen Auftritt auf dem virtuellen Set. Ich hatte schon einige Male von ihm gehört, von der jungen Dame. Ich hatte ihn auch schon gesehen und getroffen. Ich hatte schon mitbekommen, wie die junge Dame mit ihm in die reale Welt laufte, auf einen Kaffee, auf einen Spaziergang, auf eine Besorgung... Als platonischer Freund, so die junge Dame.

Als meine Gefühle für die junge Dame immer mehr an die Oberfläche kamen, als ich langsam merkte welche positive Auswirkung ihre Anwesenheit auf mich hatte, als ich nicht mehr ignorieren und verdrängen konnte und wollte, dass hier Gefühle am entstehen waren, die über Freundschaft und Sympathie hinaus gingen, wurde vieles auf den Kopf gestellt.

Ich deutete diese Gefühle an, ich fragte die junge Dame ob ihr die Idee nicht Angst einflössen würde, dass ich mich in sie verlieben könnte. Ich bekam einzig ein kurzes "Nein" und einen längeren Blick zu hören, als Antwort.

Ich versprach mir, mein Familienleben, den Konflikt mit meiner Ehefrau, meine Sucht, mein Burn-Out, den Grund weshalb ich in die Klinik kam, die Aufgaben die auf mich warteten, die Liebe zu meinem Sohn, und... und diese gerade geborene Liebe... Ich versprach mir, all dies nicht durcheinander zu bringen, das Eine vom Anderen konsequent zu trennen und getrennt zu betrachten, Entscheide bei Einem nicht durch das Andere beinflussen zu lassen. Ich versprach mir den Überblick zu bewahren und so zu handeln, dass ich mich später für nichts hätte vor mir selbst Rechtfertigen müssen, dass ich mir später nichts zu vorwerfen gehabt hätte, dass ich auch in Zukunft jederzeit mit erhobenem Kopf meiner Ehefrau, meinem Sohn und der jungen Dame hätte entgegen treten können. All dies hatte ich mir sehr früh schon versprochen.

Denn... Ziemlich früh wurde mir bewusst einen Wendepunkt meines Lebens erreicht zu haben. Früh wurde mir klar, jetzt wäre Grundsätzliches passiert, Weichenstellendes wäre passiert. Rasch wurde mir bewusst, eine solche Chance hätte sich nicht so schnell wieder geboten, um klaren Tisch zu machen und um mit mir ins Klare zu kommen.


Also... Man verlangt von mir, im Quellenhof anzurufen und einen Vorstellungstermin dort zu vereinbaren. Ich tue es. Erzähle davon der jungen Dame und bin dabei ihr zu sagen, dass ich eventuell werde in eine andere Klinik wächseln müssen, um weiter zu machen. Sie lässt mich nicht bis zur Hälfte des Satzes kommen und ab dann ist sie wieder in einer Beziehung mit Joe Abfall. Eine platonische Beziehung, so die junge Dame.

Ab nun, wird Joe Abfall praktisch täglich zur Klinik kommen und wird Stunden und Stunden mit der jungen Dame verbringen, meistens dort wo ich die beiden sehen kann, wenn ich im Areal unterwegs bin. Die junge Dame wird mir jeweils ziemlich alles erzählen, was sie mit ihrem Freund gemacht hat, geplant hat, machen wird. Sie wird mir über die Gefühle von Joe Abfall für sie berichten. Sie wird mir alle Briefe vorlesen — später vorlesen wollen — die ihr Joe Abfall als Antwort auf ihre Brief schreibt. Ihre Briefe an ihn schreibt sie oft vor meinen Augen, bevor ich sie dann vorgelesen bekomme.

Also... Von Seite der jungen Dame scheint alles in Ordnung zu sein. Sie sagt mir, sie möchte ihn nun unterstützen, wo er sie doch früher unterstüzt hatte, als es ihr sehr mies ging. Mutter und Schwester hätten sich gerade umgebracht, einige wenige Tage voneinander. Ich, ich hatte nichts gegen diesen Typ, solange er der jungen Dame nicht schaden würde, hatte ich rein gar nichts gegen ihn.

Es ging soweit, dass ich derjenige gewesen bin, der diesen Joe Abfall in Schutz nahm, als er vor dem Pavillon sass, auf die junge Dame wartend, und unsere Mitpatienten sich über ihn lustig machten und über ihn herziehten. Die eine Mitpatientin, die ich einige Monate später fast vermöbelt hätte, kurz bevor man mich in die Iso-Zelle entführte, lästerte in voller Lautstärke über seinen verwahrlosten Zustand, über den Mangel an Pflege. Ich sagte ihr mehrmals, sie solle endlich das Maul halten und Ruhe geben. Ja, dieser Joe Abfall, der gerade Mutter und Schwester verloren hatte, tat mir Leid.

Auch wenn er völlig auf die junge Dame fixiert war, schon auf eine krankhafte Art. Sie erzählte mir, wie er im Wald hinter der Klinik übernachtet hatte, wie er sonst irgendwo übernachtete, wie er obdachlos war, wie er krankhaft mit der jungen Dame zusammen sein wollte. Ich stand ihr bei und unterstützte sie als sie ihn in die Klinik einliefern liess, weil er Medikamente geschluckt hatte, völlig besoffen und an diesem Abend verwirrt war. Ich unterhielt mich mit ihr und gab ihr mein Handy um ihn anzurufen, als er im Gebäude gebenüber eine Nacht verbrachte. Ich unterstüzte sie dabei und tröstete sie, als sie weinte und ihn um Entschuldigung bat, weil sie ihn zum Eintreten überzeugt hatte: Vater, Freunde und Bekannte waren damit an diesem Tag gescheitert. Erst als die junge Dame ihn darum bat, liess er sich überzeugen und willigte ein.

Am nächsten Tag, machte ihm die Klinik das folgende ANGEBOT: 3 Wochen Aufenthalt zur Stabilisierung, unter der Bedingung jeglichen Kontakt zur jungen Dame abzubrechen und sich einzig auf sich selbst zu konzentrieren, während dieser Zeit. Er wäre eigentlich gerne 3 Wochen lang in der Klinik geblieben, in der Nähe der jungen Dame und mit der Möglichkeit genau zu sehen, was gerade zwischen der jungen Dame und mir passierte. Denn wie sie mir von ihm erzählt hatte, erzählte sie auch ihm von mir. Joe Abfall lehnte das Angebot ab und sagte, unter diesen Umständen könne er nicht in der Klinik bleiben. Der Kontaktabbruch zur jungen Dame wäre ihm kein Aufenthalt der Welt wert.

Also trafen sie sich weiterhing Tag für Tag, in der Klinik, vor meinen Augen. Eine Mitpatientin redete auf mich ein, die junge Dame sei nichts für mich, sie käme aus einer ganz anderen Welt und passe zu einem obdachlosen Joe Abfall sehr gut, aber auf keinen Fall zu einem LET IT SHINE. Wo sie sich auch noch von alten Türkischen Männer Reiz-Unterwäsche kaufen liess, wo sie Vergewaltigungen vortäuschte dort wo sie mehr als einverstanden gewesen war, betreffend Sexualverkehr. Wo sie doch einen Pfleger fast in den Wahnsinn getrieben hatte und ihn dazu gebracht hatte seinen Arbeitsplan ändern zu lassen, um so wenig wie möglich mit ihr in Kontakt zu kommen. Wo sie doch einzig und allein auf mein Geld aus war, kein Bisschen mehr, kein Bisschen weniger. Und wo ich mich wie ein Idiot ausnehmen liess. Ich solle doch einmal zusammenzählen, wieviel ich schon für die junge Dame ausgegeben hatte. Ich musste lachen... Ja... In einer solchen Klinik konnten ein paar Dutzend CocaCola Gläser schon wie ein kleines Vermögen aussehen, für manchen Patienten... Und wo ich auch noch darauf reingefallen war, sie empfinde was für mich.

Sie traf sich täglich mit Joe Abfall, mit dem sie aber keine sexuelle Beziehung hatte, weil sie mit ihm nicht konnte und nicht wollte, so die junge Dame... Sie erzählte mir, wie sie ihm dies von Anfang an klar gemacht hatte und wie er dies gegen seinen Wunsch voll und ganz zu respektieren wusste. Sie sagte mir, wie ihm die Nähe zu ihr krankhaft wichtig war. So sehr, dass er auch auf Sex verzichtete dafür. Natürlich, immer mit dem Wunsch im Hinterkopf und der Hoffnung in der Hand, eines Tages komme es dennoch dazu.

Sie erzählte mir, wie sich Joe Abfall seit geraumer Zeit Sex mit ihr wünschte, auch wenn sie gerade in der tiefsten Krise ihres Lebens steckte, auch wenn sie sich gerade ganz ganz unten befand. Er hätte sie so genommen, hauptsache sie wäre ihm gewesen. Und genau diese Einstellung war es, die in der jungen Dame den grössten Mitleid erweckte und die genau das Gegenteil auslöste, als was sich Joe Abfall wünschte, nähmlich die Bestätigung für die junge Dame, er sei nicht der geeignete Partner für sie und er würde niemals zu ihrem sexuellen Partner werden, auch nicht ausnahmsweise.

All diese Informationen die ich bekommen hatte, all dies und noch einiges mehr, hier und dort, von diesem und von jenem, all dies war Joe Abfall. Was ich daraus machen würde, wie ich diese weisse Projektions-Leinwand im leeren Kinosaal füllen würde, was ich auf diese Leinwand projezieren würde, war allein meine Sache...


Nun bitte ich dich, der gerade am Lesen bist, dir 2 Dinge vor Augen zu führen. Und zu probieren, dir vorzustellen wie es dir dabei gegangen wäre, wie du dich dabei gefühlt hättest.
  1. Irgendwann wird dir klar, dass dieser Joe Abfall dein Alter-Ego ist. Es ist eine sehr wohl real existierende Figur, die aber eine Art Rolle spielt. Diese Rolle ist so definiert, dass sie all deine potentiellen und negativen Seiten wiederspiegelt und wie unter einer Lupe — aufgeblasen und potenziert — wiedergibt.

    Die Schwester, die sich gerade umgebracht hat, ist die junge Dame die du liebst und sich von dir abwendet, eine Zeit lang. Die Mutter, die sich umgebracht hat, ist deine eigene Mutter die sich von dir abwendet, eine Zeit lang.

    All die schlechten Dinge und Eigenschaften, die dieser Joe Abfall vereint — das im Wald schlafen, das nicht akzeptieren einer 3wöchigen Kontaktsperre zur jungen Dame, die krankhafte Fixierung auf die junge Dame, die völlige Unselbständigkeit wenn sie nicht bei dir ist und dich unterstützt, der völlige Mangel an einem gesunden Masse Ehrgeiz, der Mangel an Anforderungen an die junge Dame — all dies und noch vieles mehr, sind alles Dinge die dir unterstellt und irgendwie vorgeworfen werden.

    Du weisst nicht, wie weit deine eigene Mutter und die junge Dame jemals selbst geglaubt haben — oder auch nur nicht sicher waren — ob du in Tat und Wahrheit dem entsprichst, was man dir unterstellt. Oder, besser gesagt, du spührst wie die junge Dame in ihrem Herzen weiss, wie dies nicht auf dich zutrifft doch, je weiter je länger, weisst du nicht ob man es schaffen wird oder schon geschaffen hat, Zweifel in ihr zu wecken. Bei deiner Mutter, bist du dir überhaupt nicht im Klaren, ob sie dir voll und ganz traut, ob sie nicht irgendwo Zweifel hat, du müsstest doch unbedingt und zu jedem Preis deinen Kopf durchsetzten... Schliesslich, hast du auch keinerlei Ahnung, wie man ihr das Ganze hat verkaufen können und was man ihr gesagt hat, würde dir das im therapeutischen Sinne nützen können.

    Kurz. Du weisst nicht, wie weit deine Lieben davon überzeugt wurden, man müsse dir ganz ganz böse Teufel austreiben, damit du wirklich zu dir selbst finden kannst...


  2. Die Klinik unterstützt die junge Dame dabei, diese kranke Beziehung zu Joe Abfall zu pflegen und aufrecht zu erhalten. Ein Joe Abfall der schwerst Heroin- und Alkoholsüchtig ist, der im Wald hinter der Klinik übernachtet, auf einer Bank im tiefsten Winter, der je länger je mehr einen desaströsen Einfluss auf die junge Dame hat. Denn (noch nicht zufrieden mit dem was man bis dorthin geboten hatte) in eine desaströse Richtung sollte sich noch die Beziehung zwischen den Beiden entwickeln.

    Die Klinik setzt sich vehement dafür ein, dass die junge Dame eher mit ihm eine Beziehung hat als mit dir.

    Eine Klinik die genau Bescheid weiss, wenn du auf der Station von Joe Abfall angerufen wirst um dir zu sagen, du sollst die junge Dame endlich in Ruhe lassen denn sie wolle nichts mehr mit dir zu tun haben.

    Eine Klinik die verschiedenste Unterhaltungen zwischen der jungen Dame und dir in den kleinsten Details an deine Mitpatienten weitergibt. Eine Klinik, die permanent und erfolgreich damit spielt, dass du je länger je mehr nicht weisst, wer was zu welchem Zweck und mit welcher Absicht macht. Eine Klinik in der dutzende und dutzende von Leuten Bescheid wissen, was gerade abgeht. Eine Klinik die genau weiss, dass du davon ausgehst, man wolle dir nichts Schlechtes, grundsätzlich und, gerade weil du deswegen kaum reagierst, immer krasser gegen dich vorgeht.

    Eine Klinik, in der du regelrecht Opfer von Mobbing wirst, unter den Augen von allen. Als du dann langsam die Conténance zu verlieren drohst, als du klärende Gespräche verlangst, siehst du wie der Oberarzt und der Pflegeleiter deiner Abteilung dies höchst amüsant finden und sich einen riesen Spass daraus machen, dich zu verabschieden, nach 3 Monaten Pause von harten Drogen und in gänzlich nicht für den Austritt geeigneter Verfassung.

    Eine Klinik in der dir die Therapeutin kurz vor der Eskalation und dem Point-of-no-Return sagt, du sollst ja die junge Dame aus dem Konflikt draussen lassen, denn sie sei noch nicht stabil genug um sowas durchstehen zu können.

    Eine Klinik die dann, wenn du die verschiedene Verantwortlichen zu Rede stellen möchtest, dich für Verrückt erklären lässt.

Nun frage ich dich, der gerade am lesen bist, was du glaubst wie du dich dabei gefühlt hättest?