July 22, 2019

Stauffenberg und Entnazifizierung

 
In beiden Weltkriegen musste mein Grossvater Dienst leisten, was schon an und für sich eine schreckliche Sache ist. Dazu kommt aber, dass er es für Deutschland zu tun hatte, was die ganze Sache viel schlimmer macht. Er hat mir einmal gesagt, er habe keinen einzigen Menschen umgebracht und ich ich habe keinen Grund ihm dies nicht zu glauben, denn er hätte mir ganz sicher die Gräuel erzählt, die es bedeutete, ein Menschenleben auszulöschen. Während dem ersten Weltkrieg wurde er an die Front geschickt wo er, so erzählte er mir, mit der klaren und unabdingbaren Überzeugung ankam, keine Menschenseele zu töten. Als erste Kampfhandlung seines Lebens stand nun ein Angriff bevor und mein Grossvater entschied sich dafür, als erster in Richtung Gegner zu stürmen, in der Überzeugung, sein Schicksal würde sich hier und jetzt erfüllen und er müsse in ganz jungen Jahren schon auf dem Feld fallen. In der Tat wurde er auch getroffen, doch zu seinem und unserem Glück nicht tödlich. Nein, was nun geschah, war eine dieser Wendungen die das Leben nehmen kann, die man sich nie und nimmer ausdenken geschweige denn erhoffen würde: er, der mit dem eigenen Tod vor Augen losgestürmt war, kam jetzt als für besondere Tapferkeit dekorierter Soldat nach Hause und hatte somit den Krieg hinter sich. Dass es nicht wirklich Tapferkeit gewesen war, die ihn beispielhaft vor dem Rest der Truppe agieren liess, hatte er natürlich nie zu erwähnen für nötig gehalten, weshalb auch?

Darüber, was mein Grossvater im zweiten Weltkrieg durchmachen musste, beim winterlichen Marsch durch Russland und der darauffolgenden Gefangenschaft, habe ich in früheren Posts schon geschrieben. Was ich aber heute schreiben wollte, ist eine weitere Familien-Geschichte, nämlich die über die Mitgliedschaft (gegen dem eigenen Willen und Wissen) in der NSDAP und die sogenannte Entnazifizierung, so wie sie mein Grossvater erlebt hatte. Er war Schulvorsteher irgendwo auf dem Land und hatte, durch seine Tätigkeit, lange nicht den Dienst antreten müssen. Dafür aber wurde er, wie gesagt ohne sein Wissen und gegen seinem Willen, hinter seinem Rücken von Lehrkräften als Mitglied der NSDAP angemeldet, denn diese fanden es nicht annehmbar noch vertretbar, von einem notorischen Kritiker der Partei vertreten und geführt zu werden, ausgerechnet in einem Bereich wie der der Kindeserziehung, welcher den Nazis ja so wichtig war. Aus irgend einem Grund wurde er nicht von seinem Posten enthoben sondern man entschied sich dafür, die Fassade eines mit dem Regime in Linie stehenden Schulwesens aufrecht zu erhalten. An Kritik hatte es zwar nicht gemangelt, im Lauf der Jahre, wo mein Grossvater schon ab 1933 seit der Machtergreifung durch Hitler nie seine negative Einschätzung verheimlicht hatte, doch es kam irgendwie nie zu Massnahmen, vielleicht fehlte eine alternative Persönlichkeit, oder es waren andere Gründe, ich weiss es nicht. Wirklich interessant wurde es aber dann nach dem Krieg, im Laufe der sogenannten Entnazifizierung. Die selben Menschen, die ihn über Jahre kritisiert und sich über ihn empört hatten, die ihn sogar heimlich in die Partei eingeschrieben hatten, waren nun diejenigen die bei ihm vorstellig wurden und von ihm den berüchtigten Persilschein verlangten, und die alle in etwa das selbe sagten, nämlich "Du kennst mich doch, du weisst genau wie es während dieser Jahre zu und her ging und dass man sich nur Pro Forma zu den Nazis bekannte, du weisst ja, dass ich niemals ein Nazi gewesen bin und sie auch nie für Gut gehalten habe... Also unterschreib doch bitte hier und gut ist!" Er weigerte sich, einen einzigen für sein Verständnis ungerechtfertigten Schein zu unterschreiben, was ihm wiederholt jede Menge Missgunst sicherte. Dies war die Art und Weise, wie man üblicherweise die Entnazifizierung gehandhabt hatte: eine eher fadenscheinige Angelegenheit.


Entnazifizierung und der Umgang mit den Hinterbliebenen der Attentäter an Adolf Hitler: irgendwie zeigt sich hier die Ungereimtheit der Narrative wonach Deutschland kompromisslos entnazifiziert wurde in ihrer ganzen Tragweite. Das Attentat rund um Claus Schenk von Stauffenberg hat sich gerade am 20. Juli zum 75. Mal gejährt und im Schweizer Radio lief eine sehr interessante Sendung darüber, wie die Verbliebenen unter grösster finanzieller Not ihre Existenz fristen mussten, ohne die geringste Unterstützung durch den Deutschen Staat. Das Unglaubliche daran: Die erste staatliche Handlung zugunsten der Hinterbliebenen — die Gründung eines Fonds — fand est 2004 statt! Das muss man sich mal vorstellen... Und doch ist quasi jedermann seit Jahrzehnten überzeugt, Deutschland wurde von Nazigesinnung gesäubert in den Jahren nach dem Ende des 2. Weltkriegs, daran habe sich bis heute nichts geändert und Staat und alle Regierungen seit sähen sich als Wächter von Demokratie und Gerechtigkeit. In der Tat aber war die weit verbreitete Einstellung gegenüber den Hinterbliebenen in den 50er Jahren die, man habe vielmehr mit Verrätern als mit Helden zu tun.

Operation Paperclip der Amerikanern ist inzwischen wohlbekannt und beschreibt die Mitnahme nach Übersee der Psychiatrischen Elite des Nazi-Regimes um sie in den USA unbehelligt und unerkannt weiterleben und vor allem sogar ihrer Tätigkeit weiterfolgen zu können. Darüberhinaus — oder primär — wird die gesamte NS-Biowaffenforschung in die USA übersiedelt. Und dies ist leider nur ein Beispiel von vielen, denn der Prominenteste Wissenschaftler von allen, der nach dem Krieg für die Amis arbeitete, Werner von Braun, kennt jeder, doch gab es auch viele andere die entweder im Dienste der Siegermacht gestellt wurden oder die Untertauchen durften — hauptsache, so die vordergründige Behauptung, die Russen kämen nicht in den Genuss des gesammelten Wissens. Aber nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland selbst wurden die früheren Gefolgsleute weiterhin beschäftigt, solange man sie nicht direkt mit einem Verbrechen in Verbindung stellen musste. So ist inzwischen zum Beispiel die weitere Beschäftigung der früheren Beamten in der quasi Gesamtheit des Justizapparates eine bekannte und unbestrittene Tatsache.

Doch gerade der Umgang mit den Stauffenberg-Attentat Hinterbliebenen zeigt beispielhaft, wie eine allgemein verbreitete Gesinnung noch über Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges viel viel stärker noch zum Nazi-Regime hielt, als dies heute gesagt und verstanden wird.


Österreich ist ein weiteres Beispiel dafür, wie man sich heute für antifaschistisch und von den Nazis als besetztes Land versteht, wobei es in dem Land eine unglaublich grosse Unterstützung für das Regime gab und dessen Ankunft sogar mit begeisterten Massenkundgebungen gefeiert wurde. Und auch später, war die Anhängerschaft eine weit verbreitete Haltung, derer sich heute fast keiner mehr zu erinnern mag.

Und so gäbe es Dutzende Beispiele, die meisten eigentlich auch gut bekannt und dokumentiert, wie man sich in Europa heute noch die Geschichte ziemlich so auslegt, wie sie gerade dem Zeitgeist am besten entspricht. Und gerade in solchen Fällen, hilft es den harten Fakten zu folgen, dem Geld, und hier gibt uns der Umgang mit den Hinterbliebenen des Stauffenbergs-Attentat den vielleicht besten und einfachsten Beweis einer dramatischen anderen Wahrheit, als dies heute Eigenbild und -Verständnis des Deutschen Volkes sind.
Leider...