June 28, 2010

stell dir vor...

 
Stell dir vor...

Du hast einen Job, du hast diesen Job wollen und hast viel, sehr viel gegeben. Du wolltest sehr viel geben, denn du hattest den Job wollen. Nun ist dir bewusst geworden, dass du in Zukunft nicht zufrieden sein wirst, dass du dich nicht realisieren wirst, dass du immer mehr enttäuscht und verbittert sein wirst, dass du irgendwann nicht mehr die Kraft haben wirst und ein gebrochener Mann sein wirst, wenn du den Job nicht wechselst.

Doch du weisst absolut nicht, was für einen Job überhaupt der Richtige für dich sein könnte, zu diesem Zeitpunkt in deinem Leben. Also gehst du zur Karriereberatung für eine Standort-Bestimmung, zum Headhunter um den Arbeitsmarkt und deine Chancen zu sondieren, zum Therapeuten um Privates von Professionellen möglichst getrennte zu halten (dort wo es getrennt bleiben sollte). Du gehst also zu diesen verschiedenen Menschen und alle verstehen deine Lage, können sie nachvollziehen, haben schon verschiedene Male ähnliche Fälle gehabt. Alle helfen dir und unterstützen dich, ihrem Aufgabenbereich entsprechend.

Beim der Karriereberatung ergibt sich ein Gespräch, gerade zu Beginn des dritten Termins: Etwas Smalltalk mit Bezug auf die deine aktuelle Lage. Du erzählst wie zuvor, im Café wo du gewesen bist als du gewartet hast dass es Zeit für den Termin wurde, war neben dir ein Paar, was gerade Streit hatte.
Plötzlich schreit der Mann die Frau an: "Und ich werde meinen Job verlassen, ob es dir gefällt oder nicht. Du kannst mich doch nicht zwingen, dort weiter zu arbeiten nur weil du es für wichtig empfindest. Ob ich dabei Kaputt gehe, interessiert dich nicht im Geringsten!" Die Frau versucht zu argumentieren, es sei völlig unfair, was der Mann behaupte. Natürlich würde ihr mehr als alles daran liegen, dass er glücklich sein könne. Und gerade deswegen meinte sie nur, er solle doch darüber schlafen, bevor er kündigen würde. Schliesslich behauptete der Mann bis gestern, den besten Job auf der ganzen weiten Welt zu haben. Unvermittelt spuckt der Mann die Frau an, um dann fluchend das Café zu verlassen. Die Frau bleibt zurück, fassungslos und völlig aufgelöst. Ihr ist klar, dass alle Anwesenden das Geschehene mitbekommen hatten. Dennoch ist sie in der Lage nicht in voller Panik zu flüchten und so ihrer Scham zu unterlegen. Sie geht auf die Toilette, wo sie sich Gesicht und Bluse wäscht und kommt dann mit Tränen im Gesicht zurück in das Lokal. Sie setzt sich wieder neben dir und nippt an ihrer Coca-Cola.

Du wendest dich ihr zu und sagst, es würde dir so sehr leidtun, was ihr gerade passierte. Falls du irgendwie helfen kannst, soll sie es dir ruhig sagen: Du wärst mehr als froh, ihr deine Unterstützung anzubieten. Du sagst ihr auch, dass du dich nicht einmischen wolltest doch es war für dich völlig klar, dass wenn der Mann auch noch handgreiflich oder weiterhin gespuckt hätte, du eingegriffen hättest und ihr geholfen hätte, den Typen loszuwerden. Sie dankt dir, ein trauriges Lächeln im Gesicht.

Dann erzählst du von deinem Gespräch mit einem Kollegen, wobei es eben um deine weitere Karriere ging, um deine vermeintliche Midlife-Crisis, um die Breite der Palette an Möglichkeiten, die dir in diesem Alter noch im professionellen Leben bieten können.

Danach, verbringst du die Zeit bei der Karriereberatung auf üblicher Weise und ihr arbeitet an den verschiedenen Aufgaben.

Am Tag darauf gehst du aus dem Haus, in Richtung Arbeit. Du bist gerade erst auf dem Gehweg vor deinem Zuhause als ein Passant, der dir entgegen kommt, beim Vorbeilaufen auf dich spuckt! Ohne Vorwarnung. Ohne offensichtlichen Grund... Du bist dir ziemlich sicher: Du hast diesen Typen niemals zuvor gesehen. Als du überhaupt realisiert hast, was da geschehen ist, ist der Typ schon ausser Reichweite. Du drehst dich um, schaust nach ihm, er hat sich auch umgedreht und eure Blicke treffen sich. Augenblicklich beginnt er zu rennen. Er geht um die Ecke, am Ende des Blocks und, als du dort ankommst, ist er verschwunden. Kein Passant in Sicht, weit und breit.

Kurz darauf, immer noch auf dem Weg zur Arbeit, wirst du wieder angespuckt. Diesmal von einem anderen Menschen. Es gelingt dir, ihn am Kragen zu packen und ihn zur Rede zu stellen. Er flucht und schreit und entschuldigt sich und schreit und flucht und versucht zu erklären sein Touret-Syndrom sei schuld und flucht und entschuldigt sich und spuckt und flucht. Dir bleibt nichts anderes übrig, als ihn ziehen zu lassen.

Am Abend, beim Ausgang mit Arbeitskollegen, kommt einer von ihnen ins Gespräch mit einem Typ, an der Theke der Bar wo ihr euch gerade befindet. Weil der Typ so betont laut redet, bekommst du zusammen mit den anderen Kollegen mit, wie er erzählt von einem Typen der bei ihnen in der Firma rein gar nichts an Dankbarkeit empfinde und schlecht über Job und Kollegen sprechen würde, die ganze Mannschaft in den Dreck ziehen würde, sich einen neuen Job suchen würde, dem Chef in den Rücken gefallen sei. Schlimm sei dieser Typ, ganz ganz schlimm...

Tags darauf kommt der Chef zu dir und fragt dich ob du einen Job am suchen seist. Du fragst dich, wie um alles in der Welt er davon erfahren konnte, wo du mit keinem Menschen ausser den 3 Ansprechpersonen bis heute darüber gesprochen hattest. Der Chef ist echt sauer, er ist mehr als sauer, er kocht vor Wut. Du sollst die schlimmsten Dinge über Unternehmen und Kollegen gesagt haben, du sollst über jeden einzelnen in der Firma hergezogen sein. Du versucht dein Bestes um die Situation zu klären, auch weil es dir wichtig ist dass Chef und Kolleg wissen, dass du wirklich mehr als Dankbar bist für die gemeinsam verbrachte Zeit. Du möchtest ihnen alle klar machen, dass deine Suche nach einem neuen Horizont rein gar nichts mit ihnen zu tun habe, oder mit der Firma oder dem Job. Du sagst es liegt einzig an dir und du seist einfach an einem Punkt angekommen, an dem du eine Veränderung bräuchtest. Du müsstest jetzt deinen Kompass wieder justieren, solange es überhaupt noch Zeit habe dafür. Als du am Abend dich auf den Heimweg machst, hast du nicht die blasseste Ahnung darüber, ob dir Chef und Kollegen nun geglaubt haben oder nicht. Du hattest immer ein Gefühl für sowas und konntest dich eigentlich immer auf dein Gefühl verlassen. Doch nun... Nichts am Bildschirm. Rein gar nichts...

Auf dem Weg nach Hause bespuckt man dich wieder. Wieder ein Mensch den du niemals zuvor gesehen hast. Diesmal eine Frau.

Jon Beinart: Naked Ladies In My Beard

Es geht nun seit einigen Wochen so. Jeder der Menschen, die dich angegriffen haben oder die offensichtlich in ihren Gesprächen Bezug zu deiner Geschichte genommen hatten, jeder von ihnen hatte eine andere Erklärung oder Entschuldigung bereit. So unwahrscheinlich und surreal all diese Häufung von Ereignissen auch zu scheinen mag, die einzelnen Menschen kannst du nicht annageln, denn jeder behauptet nicht im Geringsten zu wissen wovon du sprichst, wenn du sie mit deinen Vorwürfen konfrontierst.

Leider bist du einmal handgreiflich geworden, gegenüber einem Typen der dich bespuckt hatte. Er zeigte dich bei der Polizei an und du bist drangekommen, wegen einfacher Körperverletzung. Sein spucken wurde auch gemahnt, war aber einzig ein Bagatellfall. Nichts wofür sich Polizei oder Justiz je ernsthaft interessieren würde.

Als du bei der Polizei versucht hast, die Ereignisse die dich zu diesem Ausraster gebracht hatten, zu schildern, hast du dich einzig und alleine noch viel Unglaubwürdiger gemacht als es schon zuvor der Fall war. Schliesslich hattest du einen Menschen ins Gesicht geschlagen und ihn verletzt. Und nun wolltest du ihn auch noch beschuldigen, bei einem Komplott oder sonst einer doch eher wahnhaft tönenden Geschichte mitzumachen. Die Polizisten schickten dich nach Hause und sagten dabei, du könntest dich als Glückspilz betrachten, wenn sie dich nicht in die Psychiatrie verfrachten liessen. Und sie sagten dir, dies würde aber auf jeden Fall geschehen, wenn du noch ein einziges Mal in einer solchen Geschichte verwickelt wärst.

Auf dem Heimweg von der Polizei wirst du 3 Mal bespuckt. Und, als du noch schnell einkehrst um einen Kaffee zu trinken, erzählt dir der Mann an der Bar, wie er nach 20 Jahren im Service nun Job wechseln würde. Er wissen nur noch nicht, ob er zum Geheimdienst oder als Direktor einer psychiatrischen Anstalt arbeiten wolle. Er würde es sich noch überlegen. Und seine Frau meinte aber, er solle doch eher nach Brasilien gehen und dort nach Gold schürfen. Sie habe von einer Kollegin den todsicheren Tipp, wo man damit zum Multimillionär werden könne. Aber, weisst du was? Er spucke auf seine Frau. Psychiatrie oder Geheimdienst. Das würde er tun. Ah... oder vielleicht noch Direktor einer der grössten europäischen Fluglinien. Mal sehen.

Du überlegst dir gerade ihn zu packen, à la Pulp Fiction in den Keller zu verfrachten, und ihm nun die Wahrheit aus dem Leibe zu prügeln. Wieso erzählt er ausgerechnet dir diese Geschichte? Wieso mit diesen Details? Aber du weisst genau, dass er für jede Behauptung eine Erklärung bereit hätte. Du weisst, du wirst auf der ganzen weiten Welt niemanden finden, der dich offenkündig die Geschichte abnehmen würde. Du weist... du bist am Arsch...

Und übrigens: Der Karriereberater, dem du das Gesprächsstoff geliefert hattest, hatte sich ab dem Tag nach eurem Treffen wie in Luft aufgelöst. Du bist nicht einmal mehr in der Lage gewesen, jemanden zu finden der auch nur bestätigen würde, dieser Typ mit diesem Namen habe in diesem Gebäude sein Studio gehabt. Man könnte meinen, den Typ habe es niemals gegeben. Hier nicht, im ganzen Land nicht, in ganz Europa nicht, ja sogar im Internet hat es ihn nie gegeben.

Jon Beinart: Want A Shiny Black Balloon?


Jetzt möchte ich dich etwas fragen: Hast du dir das alles irgendwie vorstellen können? Ja? Glaubst verstanden zu haben, in welcher albtraummässigen Situation du dich befinden würdest, sollte diese Horror-Geschichte eines Tages deine Realität werden? Ja?

Nun... Dann hast du jetzt vielleicht einen kleinen Bruchteil von dem verstanden, was mir IN und die ganze lange Zeit NACH der Harten Klinik zugestossen ist! Einen Bruchteil...!

Wie meinst du?
Die Ärzte der Klinik?
Nein...
DIE HABEN DOCH NICHTS DAMIT ZU TUN.
Sag mal, spinnst du?
Wie sollen die auch etwas mit dem zu tun haben, was mir nach Austritt aus der Harten Klinik geschehen ist?
BIST DU ETWA EIN KLEIN WENIG WAHNHAFT?
Oder so?