June 23, 2010

alleigra & würde

Als ich, nach meinem Austritt, einen Termin mit dem leitenden Arzt Doktor NO vereinbart hatte um meine Patienten-Unterlagen entgegen zu nehmen — oder den schlechten Witz der man mir dafür verkaufen wollte — an diesem Tag hatte ich der Jungen Dame ein Treffen vorgeschlagen, über Mittag, um zusammen eine Pizza essen zu gehen. Am Tag zuvor hatte ich ihr eine SMS geschickt und geschrieben, wo ich auf sie warten würde.

Als ich dort ankam traf ich nicht auf die Junge Dame, sondern auf eine ehemalige Mitpatientin aus der Station von Doktor Y, die schon vor mir ausgetreten war. Sie sagte zu mir: "Immer positiv bleiben!"

Zufälle gibt's... Oder so.

Denn einige Zeit davor hatte ich der "Therapeutin" Lady Marmelade erzählt, wie es bei uns zu Hause zuging. Es gab oft kleinere Streitigkeiten. Und es gab nie ein Aufarbeiten der Konflikte. Ich sagte, es sei wie eine kaputte Schallplatte gewesen, oder eine CD, die immer dieselbe Rille abspielt. Ja... Das hatte ich erzählt.

Und davon, wie mein Vater immer sagte "Man muss positiv sein!" Und dann sagte er das rumantsche Wort für Glück " Alleigra", das Wort aus seinem geliebten Ober-Engadin, in das er sich vorgenommen hatte, seinen Lebensabend zu verbringen. Sein über alles geliebte Ober-Engadin, wo er jedoch niemals hinziehen sollte...



Doch eines haben die Wahnärzte nicht begriffen. Und zwar das Wichtigste. Obwohl es in meiner Familie ungelöste Konflikte gab, obwohl meine beiden Eltern schon seit langem nicht mehr am selben Strang ziehen konnten, obwohl Kommunikation und Gefühlsäusserungen gestört waren: NIEMALS hat jemand innerhalb meiner Familie seinen nächsten Entwürdigt. Niemals...

Niemals sind die Streitigkeiten unter der Gürtellinie ausgetragen wurden. Niemals wurde das Gegenüber nicht als ganzer Mensch wahrgenommen und respektiert. NIEMALS.

Und dies ist auch eine wichtige Lektion in meinem Leben gewesen. Denn, wie auch immer mein Vater irgendwie in meinen Augen ein — durch seine eigene Existenz — gebrochener Mann gewesen ist, niemals hat er irgendwen dafür verantwortlich machen wollen. Niemals hat er andere Menschen für sein Leid büssen lassen.

Im Gegenteil: Er hat in seiner schwierigen Lage noch immer sein Allerbestes gegeben, um ein Leben in Würde für sich und seiner Familie gewehrleisten zu können.
Ich denke, viele andere Männer wären an seiner Stelle auf halben Weg zu Grunde gegangen.

Weshalb ein solcher Schmerz tief im Herzen meines Vaters lag, kann ich nur erahnen. Wie dieser Schmerz entstanden ist und wie es dazu kam, dass er ihn von innen zerfressen hat. Ein Beispiel: Es tut mir jetzt noch weh daran zu denken, wie mein Vater Bilder aus seiner Jugend aufbewahrte: wunderschöne graphische Arbeiten. Es tut mir weh daran zu denken, wie seine Augen strahlten als er mir einmal diese Bilder zeigte. Eine Laufbahn im graphischen Bereich war sein Jugendwunsch gewesen. Die Begabung dazu soll man ihm abgeschrieben haben, im Gegenteil zu dem was mir seine Bilder aber erzählten. Natürlich ist das nicht der einzige Grund für das Leiden meines Vaters gewesen. Wie viele andere Nadeln im Laufe der Jahre in sein Herz stecken bliebeumn? Ich weiss es nicht. Aber ich bin froh um diesen kurzen Moment in dem mein Vater mir Einsicht in sein inneres Leben gab... Danach, war er auch schon wieder weg.


Wie auch immer... Ja. Ich habe versucht positiv zu bleiben, wann immer es ging.

Und ich danke Gott dafür.
Und meinem Vater.

Und dieses so einfache und elementare Prinzip haben die Wahnärzte völlig fehlgedeutet: Wir hatten uns sehr wohl mit einem Leben mit ungelösten Konflikte abgefunden, doch wir hatten niemals unsere Würde dabei verloren. Und wir hatten uns niemals damit abfinden müssen, dass uns jemand unsere Würde genommen hatte. Man nahm vielleicht sich selbst die Würde, aber niemals dem Andern.

Und wo auch immer meine Konfliktfähigkeit vielleicht eine Kaputte CD gewesen sein mag, die Musik begann wieder richtig zu spielen als man mir meine Würde nahm. Und dies taten die Wahnärzte in voller Absicht. Und sie gingen davon aus, der kaputte Plattenspieler würde sich aus dem Staub machen.

Doch, was wie ein kaputter Plattenspieler scheinen mag ist einzig ein Mensch der seinem Gegenüber, trotz seiner Fehler und Sünden, noch die Hand reicht. Dies habe ich auch noch einige Zeit lang getan, in dem ich das Gespräch mit der Leitung der Harten Klinik gesucht hatte. Im Versuch, die Würde eines Jeden in diesem Konflikt Involvierten, intakt zu belassen.

Als man mein Angebot nicht annahm, begann der Plattenspieler wieder zu spielen. Ein Teil der Musik den er spielte, dieser alte Plattenspieler, findet man in diesem Blog wieder.

Emil Berliner: His Masters Voice


Denn niemals, NIEMALS, hat ein Mensch das Recht, seinem Gegenüber die Würde zu nehmen. Und schon gar nicht eine öffentliche Institution in der Schweiz. Niemals...

Und so danke ich meinem Vater. Der mir gelernt hat, niemals aufzugeben.