Eines Morgens, um 8:30 Uhr in Zürich, steht ein Mann im Tram. Im tiefsten Winter hat er einzig einen Spital-Kittel an, hinten offen, und sein Arsch schaut aus dem Kleidungsstück raus. An den Füssen hat er hellgrüne Spitalpantoffeln, aus weichem Kunststoff. An den Armen hat er jede Menge Infusionen. An seiner Seite schiebt er einen Ständer vor sich hin, mit den Infusionsflaschen daran. Am Ständer hängen auch noch die teuersten Spital-Geräte zur Überwachung der Vitalwerte. Der Mann sollte dringend operiert werden: Ein lebenswichtiger und sehr komplexer Eingriff. Dieser wurde mit grossem Aufwand seit Wochen vorbereitet. Doch der Mann entschied von einer Minute auf die Andere, dass er jetzt unbedingt einen Knall benötigte. Der Junkie war aus dem Spital geflüchtet und stand im Tram, zusammen mit all den Leuten die auf dem Weg zur Arbeit waren, mit seinem Gestell und den teuren Apparaturen.Dies war der Witz, den sich Ärzte zur Zeit erzählten: Sie hatten einen riesen Spass dran. Die Anwesenden lachten sich krumm, einzig durch die Vorstellung dieser Szene. Wegen der Situationskomik, nicht wegen der Tramaturgie: Die Zuhörer waren eben keine Ärzte.
Bild von Kevin Cappis
Einige Tage später hörte die Gruppe die Vortsetzung der Geschichte, dessen Ergänzung...
Es stellte sich heraus, dass es nicht der Junkie gewesen war, der unbedingt die Klinik verlassen wollte, um zu konsumieren. Ganz im Gegenteil: Er wollte unbedingt behandelt werden, nichts wünschte er sich mehr. Mit Leib und Seele war er im Spital eingetreten, um seinem Leben eine Wende zu geben. Seine Motivation war so gross, dass er seit dem Tag des Eintritts keine Drogen mehr konsumiert hatte, und dies machte ihn mehr als Glücklich. Es waren eher die Ärzte die ein Problem mit der Situation hatten, in einem Konflikt steckten. Sie waren hin und her gerissen.Wow... Diese Geschichte war ja überhaupt nicht witzig, keineswegs! Im Gegenteil! Es handelte sich hier um eine Horrorgeschichte, dachten und sagten alle Anwesenden. Plötzlich fragte einer den Erzähler "Woher kennst du denn diese Seite der Geschichte? Das ist ja garantiert ein riesen Geheimniss, bei den Ärzten!" Er antwortete, dass sie inzwischen aufgeflogen waren. Der ganze Schlamassel wurde aufgedeckt, die Verantwortlichen würden bald zur Rechenschaft gezogen werden und es werden Köpfe rollen. "Und der Junkie? Was ist aus dem geworden?"
Zum Einen waren sie sich nicht schlüssig, ob der ganze Aufwand und die Kosten für die Behandlung zu rechtfertigen waren, bei einem langjährigen Junkie. Doch viele vertraten die Meinung, dass wenn dieser solche Entschlossenheit zeigte und erfolgreich abstinent sein konnte, über relativ langer Zeit, dann könnte es durchaus sein, dass er tatsächlich einen Wandel hinter sich hatte und dass die Aufwände wie bei jedem anderen Menschen gerechtfertig gewesen wären - nicht durch ein kurzes und destruktives Junkie-Leben zu Nichte gemacht! Doch die wichtigen Entscheidungsträger wurden nicht vom Optimismus angesteckt und sie gaben kein grünes Licht für die Aufwände und Bemühungen die für diesen Fall notwendig geworden wären. Man entschied, die Behandlung sollte nicht durchgeführt werden.
Aber... Wie sollte man sich nun des Patienten entledigen, auf elegante Weise? Auf eine Art, die nicht die unterlassene Behandlung durchschimmern lassen würde, die den Ärzten keine Verantwortung aufbürden würde? Wo der Junkie doch so motiviert war und schon der ganzen Welt erzählt hatte, dass er auf der Schwelle zu einem neuen Leben stand? Die Lösung war... Ihn so lange auf die Folter zu spannen und ihn so zu verunsichern, dass er selber irgend einen Blödsinn anstellen würde, früher oder später. Dies würde man dann als Grund für den Behandlungsabbruch angeben.
Als der Patient realisierte, dass man ihm die Chance eines Neubeginns nicht gönnen würde, als man ihm indirekt zu verstehen gab, er solle doch am Besten in die Schuhe schlüpfen und sich aus dem Staub machen, war seine Reaktion für die Ärztegemeinschaft völlig unerwartet. Aus Trotz sagte er sich "Wenn ich schon sterben muss weil das Gesundheitswesen sich weigert mich zu behandeln, dann sterbe ich in den Arbeitskleider des Gesundheitswesen, damit alle mitbekommen, dass hier nicht sauber gespielt wurde". Also machte er sich im Spital-Kittel und dem fahrbaren Ständer auf den Weg in die Szene.
Aber er hatte das von ihm erhoffte Ziel nicht erreicht... So oder so gaben die Ärzte ihm die volle Verantwortung für das Scheitern. Die Tatsache, dass er noch teure Apparaturen mitlaufen liess, deuteten die Ärzte als zusätzlichen Beweis für seine instabile Einstellung. Die Ärzte waren sich vollkommen sicher, die Angelegenheit sei somit abgeschlossen. Und sie hatten einen riesen Spass an dieser Geschichte: man klopfte sich selbstgefällig auf die Beine, wenn man den Witz während der Pause in der Caféteria den Kollegen erzählte.
Dem ginge es bestens, inzwischen. Er fand natürlich nicht den Tod und ein anderes Spital kümmerte sich um ihn. Er bekam schlussendlich was er sich so sehr gewünscht hatte und die Behandlung konnte erfolgreich abgeschlossen werden. Das Zusammenspiel von seiner hohen Motivation und der offenen und positiven Einstellung des neuen Ärzte-Teams hatte alle zufrieden gestellt und seine Früchte gebracht.Auf einmal war riesen Gelächter zu hören: Alle Anwesenden fanden diese Geschichte höchst Humorvoll. Es war die witzigste Erzählung die sie seit Langem gehört hatten. Man klopfte sich auf die Beine und lachte sich krumm.
Bild von M.C. Escher