Swiss Economyc Forum: rhetorisch solider Vortrag eines liberalen europäischen Wirtschafts-Minister, der Europäischer nicht sein könnte, der liberaler nicht sein könnte. Und, wie so oft, haben die Dinge 2 Seiten. Nach einigen eher sinn- und glanzlosen Worte von Schneider-Amman, sprach ein Politik von internationalen Format. Und nach der Rede von Guido Westerwelle könnte ich meinen, es gibt nichts ausser Märkte. Die ganze Welt besteht aus Märkten. Der Markt der Informations-Elektronik hat den Menschen in Nord-Afrika erst die Schuppen vor den Augen genommen, hat ihren Willen auf Demokratie und auf bessere Lebens-Chancen entfacht. Das mag nicht falsch sein, doch ist es die ganze Wahrheit? Es gefiel mir, als er in der kleinen Gesprächs-Runde nach dem Vortrag noch an die Verantwortung des Westens erinnerte, den begonnen Umbruch in Ägypten und Tunesien zu unterstützen, finanziell zu unsterstützen — das stimmt auch wieder, denn ohne Geld geht gar nichts. Doch, ausser Märkte habe ich nicht viel Gehört. Dass sich Deutschland neue Verbündete sucht, zum Beispiel im Rahmen des G4. Wobei sein Streben nach einer gewichtigeren Positionierung der Schwellenländer, Asiens sowie des Afrikanischen Kontinents im UN Sicherheitsrat durchaus zu unterstützen ist, denn die Welt ist nicht mehr die selbe wie noch vor 10 Jahren.
Ich hörte davon, wie sich der wichtigste Rohstoff Europas nicht zwischen den Füssen sondern zwischen den Schläfen befände. Besser kann man das wohl kaum formulieren. Ich hörte von Demokratisierung in verschiedenen Regionen der Welt. Sehr gut. Doch ich hörte absolut nichts davon, dass man sehr wohl unseren Wohlstand ausbauen und sichern sollte, dies aber im Respekt des Menschen und der Natur. Ich hörte kein Wort über Werte, die nicht ökonomischer Art gewesen wären. Ist das etwa zu viel verlangt, an einem Swiss Economyc Forum? Ich weiss nicht. Ich wage zu hoffen, dies sei nicht der Fall. Ich wage zu hoffen, der unmittelbar auf Westerwelle folgende Beitrag sei nicht nur als Unterhaltung gemeint gewesen. Ich wage zu hoffen, in dieser neuen Welt machen sich auch Geschäftsleute am Swiss Economyc Forum den einen oder anderen Gedanken darüber, wie man unsern Wohlstand sichern kann, ohne dabei die Welt abschmieren zu lassen. Westerwelle endete seinen Vortrag mit
[...] zähle ich auf viele Verbündete für eine Welt-Offene Politik, die sich nicht abschottet, sondern aufgeschlossen ist und die Chancen des Handelns in der Welt begreift.
Ich finde es durchaus spannend, wie das Wort "Handeln" auf Deutsch sowohl die wirtschaftliche Transaktion beschreibt, wie aber auch das Handeln ganz allgemein. Denn ein "Handelnder" kam nach Westerwelle auf die Bühne. Ein Mensch, der uns allen zeigt, was "Handeln" in der Welt bedeuten kann. Da kommt ein Bäcker und Konditor aus Hamburg auf die Bühne, Rüdiger Nehberg, und spricht davon wie er Dinge gemacht hat, die man glauben kann weil sie im Vorspann dokumentiert sind. Er spricht dann aber davon, wie durch seine eigene Initiative, durch sein Engagement, durch sein Handeln er Dinge erreichen konnte auf dieser Welt, die genau so wichtig sind wie die Märkte. Für die direkt betroffenen Menschen sind sie sogar das einzig Wichtige. Der Deutsche Bäcker bringt die Regierung Brasiliens dazu, einen Massaker an Ureinwohnern des Amazonas stoppen zu lassen. Massaker das, nota bene, durch einen Markt, durch ein Handeln verursacht wurde, nämlich der Handel mit Gold. Er spricht davon, wie er den Sufi der renommierten Universität Al Azhar von Kairo — zusammen mit vielen anderen — dazu bringt, sich offiziell und schriftlich gegen die Frauen-Beschneidung zu bekennen. Er spricht davon, wie bei solchen Projekten die Verbündeten von sich mit auf den Weg kommen. Auf Westerwelle, der die freien Märkte propagiert, welche unseren Wohlstand garantieren sollen, auf diesen Wirtschafts-Minister folgt also eine Privat-Person die uns die positiven Seite dieser globalisierten Welt zeigt: Nämlich dass ein deutscher Bäcker im Amazonas und in der undurchdringlichen Welt des Islams grundsätzliche Änderungen bewirken kann. Änderungen, die das Leben vieler Menschen retten können und werden.
Siehe auch die Webseite von TARGET, die Organisation im Kampf gegen genitaler Verstümmelung an Frauen.
Westerwelle und Schneider-Ammann wissen beide über die Schwierigkeit, in der Schweiz Verbündete für einen EU-Beitritt zu finden. Und ich denke, dies ist gut so. Ich denke, dies sollte so bleiben. Aber nicht, weil die EU unbedingt eine schlechte Sache wäre, nein. Sie hat, in meinen Augen, eine wichtige Rolle. Wie Westerwelle sagte, ist sie zuerst einmal Garant für Stabilität in diesem von unglaublichen Kriegen gezeichnetes Fleck Erde. Sie ist auch wirtschaftlich ein Gewicht auf der Wagenschale, die kein Land für sich alleine je hätte erreichen können, als Gegengewicht zu den ganz Grossen und den neuen Grossen. Ich glaube aber auch, dass die Schweiz viele Gründe hat, um das kleine Land mit vielen Sprachen und Kulturen zu bleiben, dass sie ist. Ich glaube es ist verständlich wie die Schweizer, die nicht an den kämpferischen Handlungen der Weltkriege teil hatten, sich als Spezialfall betrachten. Sie sind es in den letzten Hundert Jahren gewesen. Und sie wollen dies nicht jetzt ändern. Viele Schweizer geben ihrem Land durchaus einen Sonder-Status in der geographischen Realität Europas.
Ich bin aber auch davon überzeugt, dass die Schweiz in den Augen der Welt wieder ihre Berechtigung zum Spezialfall beweisen muss. Ich kann mir vorstellen wie Westerwelle und Tremonti, die mit neuen Mitgliedern wie Rumänien oder Estland zu haben, Staaten die also nicht grosse Affinitäten mit den Eigenen haben, ich kann mir vorstellen wie sich diese Minister fragen, weshalb nun die kleine Schweiz unbedingt den Sonder-Status raus nehmen möchte. Es stellt sich nun also die Frage, wie definiert sich dieser Sonder-Status? Natürlich, wir sind ein neutrales, souveränes Land und das Volk hat gegen einen Beitritt zur EU gestimmt. Doch dies kann doch nicht der einzige Grund sein. Auf was basierten die Schweizer ihren Entscheid? Worauf basiert eigentlich die Besonderheit der Schweiz?
Nun... Unser Wohlstand, das sollte uns allen klar sein, basierte früher auf einen Sonder-Status der Schweizer Banken. Dieser wurde eigentlich einzig als Kollateral-Effekt des kalten Krieges bis heute weitergeführt. Ein Geschenk an die Konfederierten, die der Kalte Krieg machte. Denn, ohne diesen, hätte das Bank-Geheimnis nach dem zweiten Weltkrieg keine Überlebens-Chance mehr gehabt. Früher oder später musste dies ein Ende finden und wir erleben es gerade. Wir können eigentlich von Glück sagen, dass es so lange dauerte, bis es nicht mehr ging.
Heute bringt uns die globalisierte Welt neuen Wohlstand. Vor allem der Steuer-Wettbewerb. Auch gut. Solange es geht. Auf die moralischen Aspekte möchte ich jetzt nicht eingehen (auch weil unter den vielen Kritikern im Ausland durchaus auch Neider zu finden sind) denn es ist eine Tatsache, dass wir heute sehr viele internationale Unternehmen ins Land gelockt haben und es ist eine Tatsache, dass dies auch sehr viele gute Seiten hat. Beginnend beim Know-How über die Finanzierung der Sozial-Werke, bis hin zu Steuer-Einnahmen. Dieser Wohlstand gibt uns aber noch nicht die Legitimierung zu einem Sonder-Status, in den Augen der EU. Ganz im Gegenteil: Natürlich schauen andere Länder mit Neid und Wut auf uns und möchten uns am Liebsten jeden Spielraum nehmen, den wir gegenüber den Rest der EU haben. Doch, auch im historischen Kontext gesehen und für unser Eigen-Bild sollten wir doch einen besseren Grund haben, den Sonder-Status zu beanspruchen.
Es gab Zeiten, da wurde in der Schweiz so was wie das IKRK gegründet. Oder es wurden die Grundsteine für Institutionen geschaffen, die für mehr Recht und Ordnung, für die Achtung der Menschen-Rechte auf der ganzen Welt standen. Es gab Zeiten, da hatte die Schweiz nicht nur das Bank-Geheimnis oder Steuer-Paradiese, sondern auch die Legitimation zu einem Sonder-Status in den Augen der ganzen Welt. Und wenn es stimmt, dass auf dem europäischen der einzige Rohstoff zwischen den Schläfen zu finden ist, dann wäre es vielleicht an der Zeit, an einer Legitimation unseren schönen Schweiz zu arbeiten. In einer Welt, in der ein deutscher Bäcker brasilianische Ureinwohner rettet, gibt es für uns bestimmt noch eine ganze Menge zu tun. In einer Zeit, in der deutsche Discounter Kleider-Stücke für wenige Cents in Bangladesh bestellt werden, wo sie Arbeiterinnen produzieren die höchstens 5 Jahre lang ihre miserablen Arbeits-Bedingungen durchhalten können, in dieser Welt gibt es bestimmt etwas für die Schweiz zu tun.
Wir haben viele gute Produkte und sehr viel Know-How. Wir sind auf dem globalisierten Markt konkurrenzfähig. Kann es sein, dass wir einzig den Aufschwung feiern und unseren Wohlstand sichern möchten? Die Welt benötigt dringendst Lösungen in Sachen Energie, sie benötigt Technologie und Know-How, sie benötigt Entwicklung und Kapital, um neue Wege gehen zu können. Sie benötigt aber auch Märkte, die nicht nur die Wirtschaft sichern, sondern auch das Leben der Menschen. Der Handels-Bedarf ist gross und alles deutet darauf hin, dass er noch steigen wird. Es ist an uns, zu entscheiden, welche Art des Handelns wir für die Schweiz möchten.
Zwischen EU-Beitritt und Abschottung gibt es noch eine ganze Palette anderer Möglichkeiten. Lassen wir uns nicht darauf ein, sie auf einzig diese zwei zu reduzieren.