June 30, 2012
wissenschaftlich objektiv
Kürzlich in Norwegen: Ein bis dahin völlig unauffälliger Typ entwirft bis ins kleinste Detail einen teuflischen Plan und setzt in dann in die Tat um. Am Ende dieser unmenschlichen Tat wird er 77 meist junge Leben — auf eine kaltblütige Weise, mit grösster Konzentration und dennoch unglaublich hasserfüllt in seiner Motivation — genommen haben. Er sprengt zuerst eine Bombe im Zentrum der Hauptstadt, eine Bombe die durch ihre Wucht sofort an höchst professionalisierte Netzwerke denken lässt. Wie durch ein Wunder stirbt hier zuerst einmal nur eine Person. Durch das ausgelöste Chaos kann sich nun der Massenmörder in aller Ruhe auf seine wahre Mission konzentrieren und fährt zuerst 75 Minuten lang zu dem Ort, wo er seinen wahren Showdown, seine in seinen Augen missionarische Tat erfolgen wird. Was in der nächsten Stunde geschieht ist inzwischen allgemein Bekannt und teil der tragischen Chronik eines Sommers in Norwegen. Er wird auf einige Opfer mehrmals schiessen um jegliche Überlebens-Möglichkeit zu eliminieren, andere hingegen wird er bewusst verschonen, wahrscheinlich möchte braucht er sie als Zeugen und Chronisten seiner "grossen Tat". Die Vorbereitungen zu dieser Tat nahmen mehrere Monate in Anspruch und erforderten eine ausgeklügelte Logistik. Die Tat war in ihrem Ablauf über mehrere Stunden bis ins Detail geplant, der Wahnsinnige hat sich sogar eine Uniform der Polizei zugelegt, um völlig ungehindert an seine Opfer zu kommen und sie überraschend aus kürzester Entfernung hinrichten zu können. Eine extreme List war also ein mitentscheidender Faktor.
Um überhaupt eine Chance zu haben, mit dieser für jeden gesunden Menschen-Verstand unvorstellbaren Tat umgehen zu können, wartet eine ganze Nation auf die Bestrafung des Täters. Die Gewissheit einer möglichst angemessenen Sühne ist für ein ganzes Volk unabdingbar um mit der Trauer überhaupt fertig werden und das Leben weiterleben zu können, um nicht an solcher Tragik zu zerbrechen. Hier kommen nun die Experten ins Spiel: 2 Gutachten werden erstellt um die Frage zu beantworten, ob der Täter überhaupt Schuldfähig sei oder nicht. Zwei anerkannte und renommierte Fachleute erstellen also je ein psychiatrisches Gutachten, beide mit dem selben Ziel: Eine saubere und professionelle Analyse der psychischen Verfassung des Täters. Und, man siehe da, die 2 Gutachten kommen zu 2 diametral entgegengesetzten Schlüsse: Das erste befindet den Schuldigen für keinesfalls im Stande, seine Tat und die damit verbundene Schuld zu verstehen, das zweite hingegen befindet ihn für völlig Schuldfähig. Pikant ist dabei, dass beide Gutachten den Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität erheben. Ich habe gehört, dass anscheinend die zwei Experten mit ganz verschiedenen Vorgehensweisen sollen gearbeitet haben. Einer hatte einzig mehrere Treffen mit dem Angeklagten während der andere auch das Wachpersonal und alle Menschen die Kontakt zu ihm angehört haben soll. Ich weiss jetzt nicht einmal welcher Experte zu welchem Schluss gekommen ist, was hier auch gar nicht relevant ist. Am Schluss haben beide Experten irgendwelche standardisierte Formulare gezuckt und, nach bestem Wissen und Gewissen, versucht eine objektive Darstellung der Lage zu liefern. Man bemerke, dass hier wahrscheinlich keine persönliche Interessen der Experten deren Resultat mitbeeinflusst haben: Zu gross die Tragweite der ganzen Angelegenheit und viel zu Breit die mediale Aufmerksamkeit. Und, obwohl beide Experten eigentlich einer ganzen Nation die für den Fall angemessene Antwort liefern wollten, sind sie zu solch entgegengesetzten Antworten gelangt.
Meine ganz persöhnliche Meinung dazu ist, dass der norvegische Täter die Strafe bekommen sollte, die er sich am wenigsten wünscht. Für uns alle, die nicht in seinem Kopf stecken, ist eh nicht nachvollziehbar wie es dort schlussendlich aussehen mag und somit ist die Frage der Schuldfähigkeit eigentlich irrilevant, akademisch. Bestraft werden muss er so oder so. Er sagte, er wolle lieber ins Gefängnis als in die Psychiatrie. Viele Menschen empören sich, verständlicherweise, bei der Idee, der Täter könne für nicht schuldfähig befunden werden und somit in der Psychiatrie landen: Sie denken, damit werde die grundsätzliche Schuld seiner Tat relativiert. Doch diese Menschen sollten vielleicht bedenken: Sich psychiatrisch und therapeutisch mit seinem Vergehen auseinandersetzen zu müssen, ist eine sehr unangenehme Vorstellung für diesen Menschen. Sollte er also wirklich die Möglichkeit bekommen, sich "einfach" in eine Gefängniszelle zu setzen und weiterhin ungestört seinem Wahn folgen? Wie auch immer...
Die Tragödie in Norwegen ist so dermassen jenseits menschlichem Verstand, dass sie eigentlich nicht für die Darstellung weit entfernter Theorien missbraucht werden sollte. Dennoch konnte ich es nicht lassen, denn hier zeigt sich wie unglaublich schwierig eine objektive psychiatrische Beurteilung ist. Denn damit verbunden ist das Grauen im Alltag einer jeglichen psychiatrischen Klinik, in der auf Grund einiger weniger Minuten die ein Arzt mit einem Patienten verbracht hat und einer Anzahl Antworten die der Patient auf standardisierte Fragen eines oder mehrerer Bögen gegeben hat, die Erkrankung des Patienten definiert wird und entsprechend seine Behandlung. Auf Grund "wissenschaftlich objektivierter Verfahren" wird zum Teil von einem Not-Psychiater innert weniger Minuten entschieden, ob er einen vermeintlichen Patienten einliefern lässt oder nicht. Auf die selbe Art kann darüber entschieden werden, ob der Patient in der Gummizelle landet und ob er unter Zwang Medikamente verabreicht bekommen wird.
Die Klinik steht nun vor einem Dilemma: Wenn ein Entscheid einmal getroffen wurde können die darauf folgenden Massnahmen sehr gravierend sein und das Vorgehen der Ärzteschaft wird man ab nun als gerechtfertigt darstellen müssen, egal wie korrekt dieser Entscheid gewesen sein mag oder eben nicht. Ab nun gibt es keine Zurück mehr, weder für den Patienten noch für die Klinik. An dieser Stelle muss man sich aber einige Dinge in Erinnerung rufen: a) Seit Jahrzehnten gab es kein Prozess mehr gegen einen Psychiater in der Schweiz. b) Die Anzahl der Patienten die gegen ihren Willen in der Psychiatrie und in der Gummizelle landen ist unglaublich gross.
Als Schlusspunkt für diesen Post möchte ich nun eine Frage in den Raum stellen, eine Frage die jeder Leser einmal ganz für sich allein sich durch den Kopf gehen lassen kann — dabei wäre es vielleicht noch hilfreich, an den Massenmörder in Norwegen zu denken sowie an die Tatsache, dass Psychiater einer kantonalen Einrichtung beruflich auch von Krankenkassen, Justiz und Politik abhängig sind: Bei einer solchen Anzahl von Fällen im Alltag eines Psychiaters und bei der eigentlich faktischen Gewissheit für begangene Fehler nicht zur Verantwortung gezogen zu werden, wie gross wird die Wahrscheinlichkeit sein, dass in der Schweiz in den letzten 25 Jahren kein Psychiater grobe Fehler begangen hat die dann Kaschiert wurden und wie gross wird die Wahrscheinlichkeit sein, dass keine Patienten unter Macht-Missbrauch von Seiten der Ärzteschaft einer psychiatrischen Klinik gelitten haben?
Autor unbekannt