Nun ist es wieder ein Mal so weit und der Todestag meines Vaters jährt sich, schon zum 18. Mal. In genau einer Woche wird es dann das 20. Mal bei meinem Grossvater sein. Diese zwei inzwischen verstorbene Menschen und dazu drei heute noch lebende und schon ist das Gesamt-Bild meiner Familie gemacht. Mutter, Vater und 2 Kinder, der Grossvater mütterlicher Seite und sonst niemand. Die Grossmutter war schon sehr früh von uns gegangen und ich durfte sie nicht einmal kennenlernen. Die beiden Eltern meines Vaters lebten in Zürich und einige wenige Erinnerungen kann ich noch mit ihnen in Zusammenhang bringen, doch leider verstarben sie beide als ich noch ein Kind war. Ja, in der Tat eine sehr sehr kleine Familie...
Wenn ich von meiner Verwandtschaft erzählte, staunten einige Leute immer wieder. Meine Ex-Frau hatte sogar schon so etwas wie Beileid mit mir. Eigentlich undenkbar, für sie, eine solche Familie, sie die eines von 8 Kindern ist, von Eltern die jeweils auch wieder Geschwister in dieser Grössenordnung haben. Wenn man alle Verwandte zusammen nahm, ergab sich ohne weiteres eine Gruppe von 200 und mehr Menschen. Doch selbst die "engen Verwandten", mit denen man den Alltag auf die eine oder andere Weise teilte, die bei einem zu Hause ein und aus gingen, waren stets mehr als ein Dutzend Menschen. Wie auch immer... Selbst für Freunde in der Schweiz und in Italien galt meine Familie als sehr klein. Heute kann ich mich an keinen einzigen Freund erinnern, der etwa gleich wenig Verwandte hatte.
Gelitten habe ich unter dieser Tatsache aber nie. Heute, im Nachhinein, denke ich dass es hin und wieder gut gewesen wäre, mehr Bezugs-Personen gehabt zu haben, oder das Heranwachsen anderer Verwandte in ähnlichem Alter erfahren zu haben. Dennoch habe ich niemals konkret einen Verwandten vermisst. Bestimmt ist dies auch der Tatsache zu verdanken, dass eine ganze Reihe sozialer Kontakte gepflegt wurden, damals. Bei uns zu Hause war öfters jemand zu Besuch, sei es auf Reisen oder sei es durch das mit meiner Mutter gemeinsame Interesse an der Musik. Auch mein Bruder und ich, nicht zuletzt wegen dem geräumigen Haus mit schönem Garten in dem wir damals lebten, hatten regen Besuch von gleichaltrigen Kollegen. So war jede Abreise meiner Eltern Grund genug für eine laute Party bei uns zu Hause.
Der schöne Garten... Regelmässig hielten Passanten an unserem Garten-Tor und machten meinem Vater Komplimente für den wunderschönen Garten. Dieser war sein kleines Kunstwerk und wurde von ihm liebevoll und regelmässig gehegt und gepflegt. Ein etwas wilder Garten, mit viel verschiedenen Blumen und Farben, mit vielen Früchten und Pflanzen und Gemüse und Kräuter, mit Palmen und Kiwis die sich bis zum kleinen Balkon im ersten Stock rankten, Himbeeren und viele Rosen, einem grossen Oleander, Himbeeren, Erdbeeren, Tomaten und Salate, Feigen und Rosmarin, und Blumen und Blumen und Blumen. Sehr oft sahen die Passanten meinen Vater inmitten dieser Farbenpracht, in kurzen Hosen und oft auf den Knien, wie er etwas setzte oder an etwas schnipste. Und sehr oft lobten sie mit Begeisterung diesen Garten, an dem sie doch so gerne vorbei liefen. Ja... Der Garten meines Vaters: Sein indiskutiertes Reich, bei uns zu Hause.
Mein Vater, der in jungen Jahren so unglaublich hungrig nach Erfahrungen gewesen sein muss, der jeden einzelnen Pass in unserer lieben Schweiz mit dem Velo mindestens ein Mal bezwungen hatte. Der sich für so viele Dinge interessierte. Der so furchtlos gewesen ist um den Posten als Direktor der Speditions-Firma Danzas anzunehmen, Direktor von Danzas in Neapel, im Port von Neapel, ohne ein Wort Italienisch zu können. Ja, dieser Mann unterschrieb tatsächlich den Vertrag, der ihn als junger Zürcher aus gut bürgerlicher Familie und ohne Italienisch-Kenntnisse in den Port von Neapel führen würde, wo er den Neapolitanern eigentlich hätte sagen sollen, wie sie zu arbeiten haben. Ich habe mir dies immer als sehr sehr schwierig vorgestellt und mehrmals habe ich schon vor meinem geistigen Auge meinen Vater gehabt, wie er alleine die Arbeit seines ganzen Teams erledigen musste. Denn irgendwie sind Neapolitaner weder dafür bekannt grosse Arbeiter zu sein, noch grossen Respekt vor Autoritäten zu haben. Doch, all meiner Vorurteile zu trotz, muss es damals in Neapel sehr gut geklappt haben, denn mein Vater und meine Mutter blieben mehr als 10 Jahre in Neapel und ihr erstes Kind kam dort auf die Welt und, ausserdem, ist ihnen diese Zeit als eine sehr schöne in Erinnerung geblieben. Italienisch lernten sie zuerst einmal in dem sie so oft wie möglich ins Kino gingen. Kontakt pflegten sie in der Freizeit hauptsächlich mit Amerikanischen Leute der Navy, die in den 60er Jahren in grosser Zahl in Neapel stationiert waren. Im Hochhaus, in dem sie wohnten, gehörten all ihre Nachbarn zu amerikanischen Navy, wobei die meisten von ihnen mit samt der Familie in Italien lebte und so gut wie keinen Kontakt zur lokalen Bevölkerung pflegten. Meine Eltern aber hatten durch die Arbeit (meine Mutter wurde auch als Assistentin meines Vaters angestellt) sowohl Kontakt zu den Menschen des Orts, wie durch die Nachbarn Kontakt zu Menschen die vielleicht ähnlichere Interessen pflegten.
Später, während meiner Jugend, ist mein Vater ein stets sehr aktiver Mensch gewesen. Er war schon 50 Jahre alt, als ich auf die Welt kam, und seine hübsche Frau war 17 Jahre jünger als er, was viele Männer im Laufe der Jahre mit etwas Neid feststellten. Und trotz seiner 60 und mehr Jahre war er stets mit dabei, wenn wir Kinder auf den Skis waren oder wenn man im Meer schwamm. Bei den Wanderungen hat man ihm nie und nimmer das Alter angemerkt, so sehr dass sich bei meinem Bruder und mir immer wieder die ersten Anzeichen von Müdigkeit bemerkbar machten. Ganz allgemein wurde mein Vater sein Leben lang praktisch immer 15 bis 20 Jahre jünger eingeschätzt als er tatsächlich war.
Nach dem Abstecher in Neapel entschieden sich meine Eltern dafür, im Italienischen Sprachraum zu bleiben und sie zogen so ins Tessin, wo sie sich definitiv niederliessen und wohl fühlten. Dort arbeitete mein Vater wieder für die selbe Firma, bis hin zur Pensionierung mit weit über 65 Jahre. Die Arbeit stand stets an erster Stelle und es gab kein Sonntag oder Feiertag an dem mein Vater, wenn es nötig war, nicht "schnell" zum Zoll gefahren wäre: Die Arbeit mit Blumen (sogenannte verderbliche Ware) kannte keine Feiertage. Ausser der Tatsache, dass mein Vater in über 30 Jahren Berufs-Leben keinen einzigen Tag vom Geschäft abwesend geblieben ist — keinen einzigen Tag der Krankheit in über 30 Jahre! (ob es glaubt oder nicht, meine Mutter kann es bezeugen....), ausser dieser Tatsache, war da noch die Angelegenheit tonnenweise der Firma geschenkter Überstunden und nicht bezogener Ferien, ausser einen viel zu tiefen Lohn, den mein Vater sein Leben lang nicht korrigierend einfordern konnte. Aus welchem Grund auch immer, verdiente mein Vater so was wie vielleicht die Hälfte von dem, was ihm zugestanden wäre. Mir kommt in diesem Zusammenhang sofort die Geschichte in den Sinn, die er mir mal erzählt hatte, die vielleicht einzige Geschichte mit wirklich persönlicher und tiefgründiger Note, die mein Vater mit mir teilte: Als Kind hatte er eine recht grosse Geldsumme verloren, als er mit seinen Kollegen eines der ersten Autos in Zürich bestaunt hatte. Seine Mutter hatte wegen dem offensichtlich für den Haushalt schmerzhafte Verlust geweint und mein Vater sollte sich diese Unaufmerksamkeit wahrscheinlich nie verzeihen können. Vielleicht auch aus diesem Grund schien mein Vater nicht im Stande zu sein, den angemessenen Lohn für seine stark über den Durchschnitt geleistete Arbeit. Vor Jahren, als ich noch weniger über meine Eltern wusste als heute, wo ich schon mehrere Gespräche darüber mit meiner Mutter geführt habe, kam das Thema der familiären Finanzen auch mit meiner ersten „Therapeutin“ zur Sprache und alles was ihr damals zu diesem Thema in den Sinn kam war die Frage ob mein Vater eine Geliebte hatte, für die er all das Geld eine Direktors verprasselte. Dies ist vielleicht aber eine andere Geschichte. Vielleicht.... Bin ich doch heute der Meinung, dass die problematische Beziehung zum eigenen Vater sehr wohl in eine Therapie gehört. Wo sonst, wenn nicht in eine Therapie?
Und schon habe ich so ziemlich alles über meinen Vater erzählt. Ein von allen beliebter Mensch, mit dem man gerne geschäftete oder über den Garten und das Wetter sprach, ein gesundheitlich fitter Mann. Gerade letztens sprach ich mit meiner Mutter über Bestattungen, Zeremonien, Einäscherung, meinen Vater, Gott und die Welt: Sie erinnerte mich daran, dass ich an einer Gedenkfeier für meinen Vater nicht teilnahm. Und es wird mir immer bewusster, wie ich damals unmöglich im Stande gewesen bin, für ihn zu trauern. Ich hatte nie grosse Auseinandersetzungen mit ihm gehabt, doch die grosse Liebe hatte sich auch nicht zwischen uns gezeigt. Es waren keine negative Gefühle da, doch die positiven fehlten auch irgendwie. Gerade wurde mir bewusst (und ich erinnerte dann meine Mutter daran) wie wenig persönliche Kontakt mein Vater gepflegt hatte. Neben all den Menschen mit denen er ganz praktische Dinge zu erledigen hatte, gab es sozusagen keine Kontakte. Und auch mit diesen Menschen pflegte er keinerlei persönliche Gespräche. Nie hätte er jemandem eine persönliche Frage gestellt oder seine Gefühle geäussert. Und so kam es, dass ich meiner ersten „Therapeutin“ erzählte, ich hätte einen absolut genialen Vater gehabt, solange ich ein Kind gewesen bin. Als ich dann zum Jugendlichen heranwuchs und später zum Erwachsenen, wurde der Kontakt zu meinem Vater immer schwieriger und distanzierter. Persönlicher Austausch war mit ihm nicht möglich.
Ich denke, das beste Beispiel für die Beziehung zu meinem Vater ist die Geschichte mit dem Jugend-Richter, als er erfuhr dass ich Heroin konsumiert hatte. Folgendes war geschehen: Der Sohn eines erfolgreichen Anwalt wurde irgendwann von der Polizei erwischt, in Zusammenhang mit harten Drogen. Daraufhin wurden viele Jugendliche die im Bar Bottega in Chiasso verkehrten vom Chef der Drogen-Fahndung der Tessiner Polizei aufgeboten und verhört. Ich gehörte zu dieser Gruppe, obwohl ich nicht viel mit dem Jungen zu tun gehabt hatte. Ich entschied mich dafür, auf keinen Fall etwas über wen auch immer zu verraten und nur über mich zu sprechen. Andererseits dachte ich auch, dass wenn ich aufgeboten wurde, mein Konsum harter Drogen nun fest stand. Eigentlich dachte ich mir so gut wie nichts dabei, als ich dem Chef-Fahnder also erzählte ich hätte ja Heroin konsumiert, aber ganz alleine ohne jeglichen Tessiner Kollegen, wenn ich mich für mein Fotografie-Studium in Mailand aufgehalten hatte. Was nun kam war die absolute Überraschung für mich. Denn ich hatte zwar etwas zugegeben, doch ich hatte keinen mit ins Boot gezogen und ich hatte angegeben, es im Ausland gemacht zu haben. In meinen zugegeben wenigen Gedanken, die ich mir gemacht hatte, endete die Geschichte hier. Doch der Polizist sagte nun etwas von Jugend-Richter und von einem Brief an meine Eltern.
Nun machte sich plötzlich Panik breit. Ich weiss nicht wieso, denn ich hätte nie und nimmer Schläge von meinem Vater fürchten müssen, ich erwartete eigentlich nicht einmal eine grosse Szene oder Geschrei von ihm. Tatsache ist, die Vorstellung dass mein Vater von meinem Heroin-Konsum erfahren würde, der absolute Horror für mich war. Und nicht nur für mich: Als ich meinem Bruder davon erzählte reagierte er noch heftiger als ich und klingelte einige Abende später an der Haustüre des Chefs der Drogen-Fahndung (sein Name war allgemein Bekannt unter den Jugendlichen und er wohnte wie wir in Mendrisio) mit der Aufforderung, ja nicht meine Eltern in diese Geschichte mit einzubeziehen: Er, der
schon volljährig war, konnte mich ja zum Jugend-Richter begleiten. Daraus wurde natürlich nichts und die Dinge nahmen ihren gewöhnlichen Weg. Die Tatsache, aber, dass mein Bruder bei der Idee, meinen Vater mit meinen Drogen-Problemen zu konfrontieren, die selbe Panik wie ich verspürt hatte, zeigt wie verdreht und verkompliziert die Beziehung zu ihm war.
Nun kam also der Brief des Jugend-Richters und mein Vater begleitete mich zum Termin. Dort versprach ich, diese wenige Ausrutscher hinter mir lassen zu wollen und in Zukunft nie wieder Heroin zu spritzen. Der Jugend-Richter nahm mir das Versprechen ab und mahnte davor, je wieder mit diesem Zeug in Kontakt zu kommen. Mein Vater und ich stiegen ins Auto und fuhren nach Hause, dort stellten wir das Auto in die Garage und, als mein Vater das Tor schloss fragte er mich, ob ich wirklich nie wieder Heroin konsumieren würde. Ich antwortete nein, nie wieder. Er sagte kein Wort mehr. Als ich ihn ansah lief eine Träne über seine rechte Wange, er wischte sie ab und wir liefen zur Tür. Nach diesem Tag hat mein Vater kein einziges Mal mehr über dieses Thema gesprochen. Als er von uns ging, hatte er auch nie mit meiner Mutter darüber gesprochen, die von meinen Problemen erst einige Zeit später von mir selbst erfuhr. Das dem Richter und meinem Vater gegebene Versprechen war schon zu der Zeit als ich es gab unmöglich einzuhalten: Ich hatte seit den angegebenen Zeiten schon wieder X Mal Heroin konsumiert, in Italien und in der Schweiz. Nichts deutete darauf hin, dass sich daran in Kürze etwas ändern sollte. Dies aber war ganz allein mein Problem &mdas; so zumindest sah ich es damals.
Da weder ich noch mein Bruder je geschlagen oder von meinem Vater angeschrien wurden, kann es womöglich sein, dass wir beide vor einer einzigen Träne und vor der darauf folgenden Stille, eine solch unerklärliche Angst, ja Panik, hatten...
Mein Vater. Ich habe ihn nie wirklich verstanden. Und heute ist mir klarer denn je, wie wenig er mich verstanden hatte. Doch er hatte auch vieles an sich selber nicht verstanden, oder war nicht damit klar gekommen. Er, der so schnell das Gefühl hatte, mein sei ihm zu nahe getreten, hat immer einen grossen Abstand zwischen sich und der Welt gehalten. Ein Abstand den ich bis heute fühle und der mich bis heute belastet. Ein Abstand zwischen mir und dem Menschen, dem ich mein Leben verdanke und der nie auch nur einen Ansatz von Bosheit, Gemeinheit, Egoismus, oder was auch immer negatives mir gegenüber gezeigt hätte. Ein Vater, der nur das Beste für mich wollte, der es aber nicht ausdrücken konnte. Ein Vater, der viel Liebe, Positivität und Zuversicht in sich trug, leider aber völlig ausser Stande war diese zu zeigen. Mein Vater, der durch seinen Abstand zur Welt wahrscheinlich am meisten von uns allen gelitten hat.
Heute erinnere ich mich an meinen Vater mit Liebe. Leider eine durchaus noch distanzierte Liebe. Weil Liebe aber stärker als der Tod ist, hoffe ich immer noch, mit der Zeit einen unkomplizierteren Draht zu meinen Vater finden zu dürfen. Ich erinnere mich daran, wie er hinten auf meinem Motorrad sass, als sein Auto stehen blieb und ich ihn abholte, und wie er da sowas von ängstlich gewesen ist, völlig verkrampft, bei jeder sich neigen des Motorrads sein Gewicht in die entgegengesetzte Richtung schmeissend, er der so viel Fahrrad gefahren war hatte jetzt panische Angst vor dem Motorrad — oder vor mir... So fuhren wir die paar Kilometer bis nach Hause mit nicht mehr als 30 km/h und noch immer verkrampfte er sich bei jeder Bewegung der Lenkung. Es ist die reinste Folter für ihn gewesen. Ich erinnere mich als sei es gestern, und kann mir wie damals nicht erklären woher so viel Angst kam. Ausgerechnet bei ihm, der sonst vor so gut wie nichts Angst zu haben schien. Aber vielleicht vermied er geschickt ein Leben lang all die Dinge, die ihn ihm Angst hervor riefen. Vielleicht hatte er nie gelernt, sich seinen Ängsten zu stellen... Doch, wer weiss das schon, jetzt? Du allein, Vater.
Love is stronger than death, Vater. Ich bin sicher du verstehst mich bestens, spätestens jetzt. Vielleicht sieht man sich wieder eines Tages und, falls wir uns dann noch daran erinnern was wir in diesem Leben gewesen sind, kannst du mir dann ja erzählen was dich so sehr von dieser unseren und Gottes Welt fern gehalten hat, dein ganzes Leben lang und je länger je mehr. Dann kannst mir du sagen, was dich davon abhalten konnte, deinem Sohn zu helfen. Und weshalb es dir ein Leben lang unmöglich gefallen ist, dir jemals helfen zu lassen. Love ist stronger than death, Vater.