November 12, 2011

1984: Das Kapital

 
Es kommen mir gerade mindestens 2 Herren in den Sinn, denen ich doch so liebend gerne ein paar Fragen stellen würde. Was würde ich geben, um ein Gespräch mit Karl Marx und George Orwell führen zu dürfen? Um ihnen unsere jetzige Zeit und unsere jetzige Welt zeigen zu dürfen? Um ihre Reaktion darauf erleben zu dürfen?

Da wäre Karl Marx. Wenn der heute sehen würde, womit sich die Politiker in Europa und den USA beschäftigen, der würde seinen Augen und Ohren eher nicht trauen. Da flitzen Kapitale rund um den Globus, genau wie er es vorgesagt hatte. Doch konnte er keineswegs voraussehen, dass wir alle Tag für Tag die Kurse studieren würden, dass die Tagesschau kein anderes Thema mehr kennt, ausser wenn irgendwo gerade gestorben wird. Er würde sich wahrscheinlich die Augen reiben, wenn er mitbekäme wie viele Menschen ihre Ersparnisse verloren haben, beim mitmachen an diesem gigantischen Karussell. Er würde wahrscheinlich lachen oder weinen, wenn er hören würde dass in der Schweiz das in kleinen Gruppen organisierte Poker-Spiel von der Glücksspiel-Kommission verboten wurde, sich aber jeder als Broker versuchen darf, seine ganze Alters-Vorsorge in den Kapital-Strudel verlieren darf — ganz legal. Ich habe Marx (noch) nicht gelesen, doch was würde ich geben um mit ihm zu sprechen? Dann würde ich ihn fragen, ob er (nebst aller Tragik) nicht auch etwas Komik in der Tatsache sieht, dass ausgerechnet die Chinesen zur Zeit die absolut besten Kapitalisten zum Besten geben? Findet er er nicht irgendwie ironisch, dass sie gerade den USA und all den Möchtegern-USA vormachen, wie die offensichtlich effizienteste Art von Kapitalismus aussieht? Eine einzige Partei, keine Menschen-Rechte und der ungebrochene Wille Geld zu machen. Ist das nicht schon fast die Perfektion im Wirtschaften von Kapital? Oder so? Ach, ich hätte so viele Fragen an Karl Marx...

Dann wäre noch dieser gewisse Herr Orwell. Er hätte wahrscheinlich zuerst vor Glück gejauchzt, beim Anblick seinen Films in der Werbung von Herrn Jobbs: Welch schöneres Versprechen hätte man George Orwell machen können, als jedem Mann und jeder Frau auf der Welt die Mitteln zu liefern, um sich vom Big Brother zu befreien? Ich bezweifle, dass ich den Mut hätte, Herrn Orwell die Sendung Big Brother zu zeigen. Zumindest nicht während dem ersten Treffen. Denn er hätte garantiert schon einen genügend grossen Schock wenn er erfahren würde, was letztens über die Telefone von Herrn Jobbs bekannt wurde — nein, wenn er erfahren würde, dass nach dieser Bekanntmachung eigentlich gar nichts geschehen ist. Den Menschen wird also gesagt, dass ab nun an jederzeit in Erfahrung gebracht werden kann, wo sie sich gerade befinden und wo sie sich wann in der Vergangenheit befunden haben (und zwar dank einem dieser Geräte der Serie Befreiung von Big Brother): Die Menschen nehmen es achselzuckend zur Kenntnis und kaufen enthusiastisch weiter. Und ich möchte dies jetzt nicht einmal bewerten, ich möchte nur Herrn Orwell erzählen was im letzten Jahr geschehen ist. Dass ich mich niemals daran gestört habe, dass der Supermarkt mein Kauf-Verhalten bestens kennt und mir dafür 1% Rabatt gibt, scheint mir vernachlässigbar zu sein. Und da wäre noch diese andere Firma, die all unsere Bewegungen im Netz speichert, die weiss was wir wann lesen, suchen, speichern, weiterempfehlen, schreiben. Ja, sie sagt sogar vorraus was wir kaufen werden. Und sie bestimmt mit, welche Informationen uns zu Verfügung stehen! Welch Staunen, für Herrn Orwell, zu erfahren dass Big Brother gar kein Horror für uns Menschen zu sein scheint: Er muss uns lediglich nur richtig verkauft werden. Die Qualität der Werbung und (manchmal) der Ware machen den Unterschied!

Diese zwei Herren müssten heute mit ansehen, wie ihre Visionen irgendwie war geworden sind und irgendwie auch nicht. Sie müssten sich ansehen, wie wir alle auf dieser ihrer, unserer und Gottes Erde völlig freiwillig, mit unserem aktiven und mehr oder weniger bewussten Wirken, ja mit vollem Enthusiasmus, alle zusammen, Teile von dem bedrohlichen "Grossen" geworden sind, dass (ihrer Visionen nach) unsere Lebens-Qualität so sehr bedrohen würde. Und die Herren hatten völlig recht: Unsere Lebensqualität hat dadurch sehr viel einbüssen müssen — zur Zeit liegt Herr Marx weit vorne, doch wer weiss schon was in 20 Jahren sein wird... Ja, wir haben Lebens-Qualität verloren, doch viele von uns haben voller Erwartungen und Träume gerne ihren Beitrag dazu geleistet. Und leisten ihn weiterhin. Weil man uns inzwischen schon zu glauben machte, es könne gar nicht mehr anders sein. Man gab uns zu glauben, all dies sei gegeben.

Armer Herr Marx, armer Herr Orwell. Wie komisch würdet ihr doch im Big Brother Haus daherkommen: Von der Kamera nicht geliebt, vom Publikum nicht verstanden, keine richtigen Emotionen in die Wohnzimmern übertragend. Ihr komische Sonderlinge, ihr antiquierte alte Modelle, ihr in anderer Zeit lebende und der Komplexität unserer Gesellschaft nicht gerecht werdende Idealisten, die den Albtraum einer ganz schlechten Welt hatten. Wir haben sie für euch erschaffen, diese Welt. Wir sind sie am erschaffen. Was meint ihr dazu?

Und Gandhi? Wenn ich an Gandhi denke, kann ich mir vorstellen, dass er absolut entsetzt darüber wäre, was wir aus dieser Welt in den wenigen Jahren machen konnten. Doch er wäre am wenigsten von allen darüber überrascht, dass wir das mit grosser Hingabe und Überzeugung getan haben.