September 16, 2011

Mutter-Liebe

 
Mutter-Liebe
oder
Sucht, Gewalt und Babies


Über das Thema Sucht weiss ich ziemlich gut Bescheid, inzwischen: Schon früh zeigte sich meine Prädisposition zur Sucht. Vor den Harten Drogen hatte es Tabak, Alkohol, Codein, Poppers, THC, usw. gegeben. Seit nun bald 30 Jahre musste ich Erfahrung mit dem intravenösem Konsum harter Drogen machen. Meine erste Berührung mit Heroin war auch schon mein erster Knall, im Alter von 16 Jahren. Wir waren eine Gruppe von etwa 10 Menschen, wenige Hundert Meter über der Grenze in Italien, bei einem Bekannten zu Hause. 7 von uns spritzten sich an diesem Abend zum ersten Mal Heroin. Zu dieser Zeit waren Aids und HIV noch völlig unbekannt und Spritzen wurden nicht verteilt, um den Konsum nicht zu unterstützen. So kam es, dass wir in den darauffolgenden Jahren immer wieder unsere Spritzen mehrmals brauchen mussten und sie auch unter uns tauschten. Ich erinnere mich an einem Abend, als wir mit den Autos in eine kleine Waldlichtung fuhren und dort zu sechst oder siebt eine einzige Spritze benutzen, einer nach dem andern — einige unter diesen Menschen starben in den 80ern und 90ern an Aids. Ich nenne es Schicksal, denn ich finde keine andere Bezeichnung dafür, dass ich mir nicht die todbringenden Viren einfing. Natürlich versuchte ich später, als dann HIV bekannt wurde, auf meine Gesundheit zu achten, zumindest was dies anging.

Wie ich heute weiss, haben wahrscheinlich eine ganze Reihe von Umständen mit dazu beigetragen, dass ich derart zur Sucht neigte. Selbst die Tatsache, dass meine Mutter vor meiner Geburt schon ein Kind verlieren musste, dass sie während der ganzen Schwangerschaft mit mir irgendwo Angst haben musste, sie könnte auch mich wegen Toxoplasmose verlieren, selbst dieser pränatale Stress meiner Mutter könnte mit einer der Gründe sein, weshalb ich Probleme mit Sucht hatte — dies ist heute dank der Epigenetik bekannt. Natürlich gab es auch andere Dinge, die sowohl Sucht wie auch die Borderline Persönlichkeits-Störung mit beeinflusst haben. Sowohl Konflikt-Situationen wie aber auch absolut gut gemeinte Verhaltensweisen meiner Eltern. Ich weiss, meine Eltern habe mich sehr geliebt und wirklich immer das Beste für mich gewollt, und ich weiss dass sie es wirklich zu meinem Besten getan haben, als sie zum Beispiel nicht immer auf das schreiende Baby eingegangen sind. Damals sich für sehr fortschrittlich bezeichnende "Experten" haben nämlich die Meinung vertreten, das Kind würde in seiner Entwicklung unterstützt, wenn es lernen würde, nicht nach jedem kleinen Schrei auf die Mutter zählen zu können. Heute weiss man inzwischen wie falsch dieser Ansatz ist und wie folgenschwer er teilweise sein kann. Meine Eltern liessen das Baby aber hin und wieder alleine schreien und, obwohl vielleicht instinktiv alles dagegen sprach, war meine Mutter dabei überzeugt, einen Beitrag zu meiner besseren Entwicklung zu leisten. Gott sei Dank durfte ich in anderen Bereichen so viel von meinen Eltern mit auf meinen Weg nehmen, dass ich meine verschiedene Defizite durch vielleicht überdurchschnittliche andere Gaben wettmachen konnte. In diesem Sinne möchte ich meinen Eltern danken, für eine trotz den schwierigen Umständen sehr gute Arbeit.

Wie auch immer, worauf ich überhaupt hinaus möchte ist, dass ich der Meinung bin, die Beziehung zwischen Kindern und Eltern, die möglichen Einflüsse auf das Baby uns schon auf den Ungeborenen, sind heute noch immer unterbewertet. Ich könnte mir vorstellen, es wird uns sehr schwer gelingen zu einer besseren Gesellschaft zu gelangen, solange wir unseren Babies nicht bessere Bedingungen bieten können. Gewalt und Sucht verbreiten sich ja immer mehr in unserer Gesellschaft und ich bin immer mehr der Überzeugung, es wird uns nicht gelingen gewisse Muster zu durchbrechen, solange wir nicht besser mit unseren Babies umzugehen lernen. Ein gutes Beispiel ist vielleicht die Gewalt in Tibet: Tibetanische Mütter werden vom Dalai Lama als sehr sehr liebevoll beschrieben. Es würde mich nicht wundern, wenn dies mit einer der wichtigen Faktoren wäre, weshalb im früheren Tibet so wenig gewalttätige Menschen geboren wurden.

Bei uns löst "Sex and the City" einen unglaublichen Hype aus... Womit vielleicht schon vieles gesagt wäre. Poppen und Schoppen: Wollen wir die von uns gepflegte Kultur wirklich so weit verarmen lassen? Wahrscheinlich werden in Frankreich nicht mehr gewalttätige Kinder erzeugt als in Deutschland, obwohl in Frankreich die Zahl der Mütter die sehr schnell nach der Geburt wieder zurück ins Arbeitsleben gehen viel grösser ist. Eine frustrierte oder ängstliche deutsche Mutter, die sich sorgen um ihre Karriere macht und mit Zukunfts-Ängsten konfrontiert ist, muss nicht unbedingt die bessere Mutter für ein Baby sein, auch wenn sie viel Zeit mit ihm verbringen kann. Meiner Meinung nach haben wir eine gewisse Kultur der Mutterschaft, des Elternsein verloren. Probleme werden von Generation zu Generation weitergegeben, anstatt dass unbelastete Wesen in die Welt getragen werden.

Wir wissen heute, wie überaus wichtig die ersten 3 Lebensjahre sind, was zum Beispiel die Lernfähigkeiten betrifft. Doch leider hat heute niemand Zeit um sich in den 3 Jahren eines Lebens intensiv mit der Entwicklung eines Babies zu beschäftigen. Inzwischen zeigen auch Studien, dass Förderung im Vorschulalter mit einer Rendite von 1 zu 1'000 (!) wieder belohnt wird, leider aber erst nach 20 oder 30 Jahren. Dennoch soll mir mal jemand den Börsen-Deal zeigen, der in 20 Jahre 1:1'000 abwirft...


Durch solche Versäumnisse werden sich Sucht und Gewalt immer mehr in der Gesellschaft verbreiten. In der Zwischenzeit sind meiner Meinung nach weit mehr Menschen von irgend einer Art von Sucht betroffen, als wir dies allgemein meinen. Ich denke, Sucht ist heute in der Arbeitswelt viel verbreiteter, als überhaupt vermutet. Welcher Investment-Banker ist nicht von einer Sucht betroffen? Workaholismus? Dann kommt der Rausch des Risikos, vielleicht noch Nikotin und zyklischer Konsum von Alkohol... Und schon haben wir ein recht komplexes Sucht-Bild — obwohl viele davon toleriert sind und teils sogar als positiv gesehen werden, in unserer Gesellschaft. Kein Wunder, haben wir immer mehr Burnouts.


Heute schicken unsere Eltern ihre Kinder in die Welt hinaus, mit der Bitte sie sollen erfolgreich sein. Bei der Definition von Erfolg aber, haben sie schon ihre liebe Mühe... Eltern die tatsächlich ihren Kindern ein gutes Beispiel in Sachen Sucht sein könnten, sind nicht so zahlreich. Noch viel schlechter sieht es dann in der grossen weiten Welt aus, wo sich jeder Teenager zu jeder Zeit Kokain, Alkohol und noch ganz andere Drogen besorgen kann. Auch die Gesellschaft ganz allgemein, hat ja ihre liebe Probleme mit dem Thema Sucht. Alkohol ist absolut toleriert und alltäglich, man versucht nicht einmal wirklich etwas dagegen zu tun, ganz im Gegenteil: Alkohol ist a) billiger als Wasser und b) die offiziöse Droge unserer Zeit.

Ich glaube nicht, dass wir mit Sucht und Gewalt besser werden umgehen können, solange die schwangeren Mütter unserer Gesellschaft all dem Stress und den Problemen ausgesetzt werden, die sie in der heutigen Zeit plagen.