May 03, 2012

die richtige Ausnahme


Es war irgendwann im Laufe der Neunziger Jahre. Ich hatte eine Ausnahme gemacht, eine Ausnahme von einer Regel die ich mir schon seit vielen Jahren auferlegt und die ich stets verfolgt hatte. Es sollte bis zum heutigen Tag bei dieser einen einzigen Ausnahme bleiben. Doch, so sehr ich irgendwie stolz darauf bin, mich an diese Regel gehalten zu haben, so sehr bin ich auch glücklich darüber, sie für dieses eine Mal gebrochen zu haben.

Ich danke dir von Herzen. Was ich erlebt habe, hat irgendwie mein Leben verändert.
Dass er unsere Ausflüge genossen hatte, war mir sofort klar gewesen. Dass sie aber einen solchen tiefgreifenden Einfluss auf ihn haben sollten, war mir nicht klar. Bis zum dem Zeitpunkt, in dem er zu mir sprach.

Ich werde in einigen Monaten zurück in die Heimat fahren und ich werde mein Land mit anderen Augen sehen. Sowohl im Guten wie auch im Schlechten.
Mit seiner Heimat meinte er ein Ort irgendwo in Radjastan. Er war Sohn einer gut situierten Familie, die in einem dieser märchenhaften Palaste residierte. So stellte ich es mir jedenfalls vor, als er von sich erzählt hatte. Er war schon in der Welt herum und liess sich nun in einer der besseren Schweizer Hotellerie-Schulen ausbilden. Als Teil der Ausbildung musste er nun während einem Jahr in einem Betrieb arbeiten, um praktische Erfahrung zu sammeln. Er hatte dafür extra eine Stelle in Zürich angenommen, weil er diese Stadt kennen lernen wollte. Auch wenn die Stelle, die im hier angeboten wurde, um einiges Schlechter war als solche die er anderswo hätte angeboten bekommen. Wie so viele in seiner Situation, musste auch er sich nun ausnützen lassen und während einem Jahr für einen Hungerlohn schuften, irgendwo hinter den Kulissen einer Glanzwelt der Dienstleistungen. Doch er scheute sich keineswegs vor der Arbeit, biss die Zähne zusammen und hielt das eine Jahr durch, bei einer Arbeit die er in seiner Heimat für kein Geld auf Erden je gemacht hätte. Eine Arbeit die von den Angestellten der Familie übernommen wurde. Er erzählte mir, wie sehr es ihn bedrückte, seine Arbeitskollegen zu sehen, die schon seit vielen Jahren diesen Job als Hilfskräfte machen mussten, sich dabei abrackerten und am Ende des Monats keinen roten Heller übrig hatten. Die meisten waren Ausländer und hatten keine Ausbildung. Sie waren froh, einen Job zu haben, doch viel mehr hatten sie auch nicht vom Leben. Mann und Frau schufteten, die Kinder in der Schule. Wie auch immer... Er meinte, er danke Gott, müsse er dies nur während einem Jahr tun. Die Angestellten bei ihnen zu Hause, die hätten ein besseres Leben als die Menschen in den Küchen von Zürich. Denn dort hätten sie wenigsten sonst noch was, neben der Arbeit. Sie hätten ein wunderbares Land und eine wunderbare Kultur. Sie hätten zwischenmenschliche Beziehungen. Während hier vielleicht ein Fernseher und ein Auto drin lägen, doch damit hatte es sich auch schon. Und er meinte, ein Fernseher und ein Auto seien doch zu wenig, um ein Leben in einer Küche auf einem Hinterhof zu verbringen, während im vorderen Teil des Ladens fast mehr Geld für eine Flasche Champagner ausgegeben werde, als man in einer ganzen Woche verdienen könne. Ich weiss nicht wie sehr das Leben eines Küchen-Angestellten in Radjastan wirklich besser als in Zürich sein mag — bestimmt ist dort das Missverhältnis zwischen Ausgaben der Gäste und Einkommen der Angestellten noch viel grösser als in Zürich — so lauteten aber seine Worte und ich kann mir schon vorstellen, dass ein Teil Wahrheit darin steckt.

Zu Hause wartet eine arrangierte Heirat auf mich: heute weiss ich, dass ich diese Frau nicht heiraten werde. Weil ich sie nicht liebe. Ich weiss, dass ich damit viele Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen auf mich werde nehmen müssen, doch jetzt bin ich entschlossen und weiss, dass ich das Richtige tue und dass ich es tun muss.


Er liess sich Andy nennen. Wie sein Name weiter war, kann ich leider nicht mehr sagen. So wie ich leider nicht weiss, was aus Andy geworden ist. Man wollte eigentlich in Kontakt bleiben, doch verschiedene Umzüge und ein immer wieder chaotisches Leben liessen uns die jeweiligen Spuren verlieren. Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wie genau ich Andy kennen lernte, jedenfalls war er eines Tages bei uns in der WG. Man war sich aber auf Anhieb sympathisch und pflegte spannende Unterhaltungen zu führen. Auch gab es immer wieder viel zu lachen.

Ich sehe nun die Welt mit anderen Augen.
Bevor Andy so sprach, hatte ich also keine Ahnung welchen tiefen Einfluss die gemeinsam verbrachten Wochenenden auf ihn gehabt hatten. Doch sofort, als er damit begann sich zu bedanken und von einem grossen Geschenk zu sprechen, wusste ich ganz genau wovon er gerade sprach. Ich wusste genau, was er erlebt hatte und wie sehr dies eine Offenbarung gewesen war. Ich wusste genau welche Emotionen ihn so tief berührt hatten, dass sein Leben davon irgendwie geprägt sein sollte. Ich wusste genau, wie all dies auf nie mehr vergessen in seinem Herzen geschrieben wurde. Ich wusste es genau, denn ich bin dabei gewesen. Ich befand mich an seiner Seite, wenige Schritte von ihm entfernt, als er mich mit einem riesigen Lächeln und Augen grösser als ein Kind unter dem Weihnachtsbaum ansah, während er im Rhythmus der Musik tanzte. Ich war dabei, als wir gemeinsam einige Zentimeter über der Tanzfläche schwebten.


Madagascar  ==  You're Beautiful



Ich hatte eine Ausnahme gemacht, und musste ziemlich gegen mich ankämpfen um mich überreden zu lassen. Doch Andy war mir sehr sympathisch, er hatte was in der Birne und er hatte was im Herzen. Also nahm ich ihn einmal mit, nach dem er mehrmals darum gebeten hatte. Ich weiss wie gefährlich so ein Spiel werden kann und ich hatte mir geschworen, niemals einen Menschen dazu zu bringen, ähnliche Probleme zu erleben wie ich sie erleben musste. Doch ein Freude-Tanz ist nicht eine Wolke des Nichts, er ist kein Apfel der Vergessenheit, den man anbeisst um die Trübung des Herzens und dessen Schmerz zu vergessen. Aber woher kann man wissen, ob jemand von der Flut wird weggespült werden — ganz egal, wie wundervoll die Welle, die einen überrollt, auch sein mag?

Ich weiss nicht genau, wie mein Leben weitergehen wird. Eigentlich habe ich keine Ahnung. Doch ich weiss, ich werde Dinge tun können, die mir Freude bereiten. Ich weiss, ich habe Lust darauf zu erleben was kommen wird. Ob dies in meiner Heimat sein wird, kann ich noch nicht sagen. Doch ich bin zuversichtlich, dass ich meinen Weg finden werde.


Die Welt ändert sich nach einer solchen Erfahrung kein Bisschen. Und das eigene Leben wird sich auch nicht geändert haben. Es wird nun unmöglich ein einziger Tanz sein können — dies zu versuchen ist im Vorhinein zum scheitern verurteilt. Doch ein Freude-Tanz hin und wieder, das mag jedes Leben versüssen. Es ist nicht die Welt die sich verändert hat, sondern die Augen mit denen man sie sieht.

Ich möchte dir danken: ich werde etwas mitnehmen dürfen, dass unsere Begegnung ermöglicht hat.


Ich weiss also nicht was aus Andy geworden ist. Doch ich hoffe von ganzem Herzen,, dass er seinen Weg gemacht hat. Dass er die noch offenen Fragen, die er damals hatte und bis heute nicht beantworten konnte, nie vergessen wird. Ich hoffe, dass er sich noch immer daran erinnert, was er mir damals sagte — und entsprechend sein Leben gestalten konnte. Von ganzem Herzen wünsche ich, dass Andy nicht vom Tsunami mitgenommen wurde, der in seinem Herzen eine aufgehende Sonne begrüsste. Ich hoffe, dass er in all diesen Jahren Gewässer finden konnte, auf denen er immer wieder in Ruhe und Gelassenheit seine Route segeln durfte. Ich hoffe, Andy konnte hin und wieder die Nacht zum Tag machen und, zusammen mit guten Freunden, heller als eine Sonne scheinen...


Fun  ==  We Are Young