January 19, 2011

beruf (ung) s - wahl

 
Ich befinde mich in einem Lager voller Pneus, irgendwo in der Deutsch-Schweiz, nicht auf dem Land, nicht in der Natur, aber auch nicht in der Stadt, irgendwo in einer Industrie-Zone, am Arsch von der Welt aber nicht weit von einer Autobahn. Die Hallen sind gross, desolat, kalt. Was tue ich hier? Mein Vater und der Chef von der Firma nehmen mich mit auf einen Rundgang, ich bin etwa 15 Jahre alt. Wir sind eigentlich auf dem Weg in die Ferien, irgendwo hin, und haben hier einen Termin. Ich stelle mich vor, bewerbe mich für eine Lehrstelle, irgendwo in einer Zeitung ausgeschrieben. Wenn ich die Stelle bekomme, werde ich eine Wohnung in der Nähe der Firma beziehen müssen, die Deutsche Sprache lernen, die ich damals nur mit Mühe spreche. Man wird uns Bescheid geben. Wir ziehen weiter.

Heute kommt mir das Surreal vor. Ich habe Jahre lang gar nicht mehr daran gedacht. Wie ratlos musste denn mein Vater sein, damals? Ich danke Gott, bin ich damals nicht angestellt worden. Vielleicht wäre ich 2 Jahre später ein zusätzlicher junger Mann gewesen in den Statistiken der Toten. Entweder physisch gestorben oder zumindest innerlich. Wie kommt mein Vater überhaupt auf die Idee, mich in diese Firma unterbringen zu wollen? Was sollte das? Keine Ahnung... Und fragen kann ich ihn leider auch nicht mehr.

Begonnen, hatte alles bestens. Ich erinnere mich an den ersten Schultag, meine Mutter begleitet mich am Morgen zur "Palazzina" in Mendrisio. Kinder und Eltern rund herum, mehrere Kleine weinen bittere Tränen der Angst. Mir geht es gut. Ich bin gespannt, was hier so abgehen wird. Und dann beginnt auch schon der Ernst des Lebens. Ich bin gut. In ziemlich allem. Mathematik? Während der ganzen Grundschule schüttle ich die Multiplikation-Tabellen nur so aus dem Ärmel. Diktate? Französisch? Alles mit links. Ich lerne zwar ein Bisschen zu Hause, mache es aber gerne. Ich habe Freude daran und sauge alles in mir auf. So geht das eigentlich die ersten 5 Jahre. Dann, die Mittelstufe. Jetzt beginnt's zu hapern. Alles, was ich nicht aus dem Stegreif kann, ist Scheisse. Ich lerne praktisch nie, mogle mich irgendwie durch die 4 Jahre. Ich bin ein Hitzkopf. Jetzt noch viel mehr als in der Grundschule. Im Geografie Unterricht antworte ich bei einem Überraschungs- Bestrafung-Test auf jede Frage mit einer Farbe und einem Gefühl, oder einer Frucht. Der Professor fühlt sich schon ein bisschen verarscht. Die Noten rutschen in den Keller. Ich könnte schon, das weiss jeder Lehrer. Ich will aber nicht. Selber, könnte ich nicht einmal sagen, weshalb ich nicht will.

Früher ging alles von selbst und machte Spass. Nun muss man sich anstrengen für Dinge die einen völlig auf den Sack gehen? Ohne mich! Dass ich mir selber ins Fleisch schneide, hat mir offensichtlich niemand plausibel erklären können.

Gymnasium, erstes Jahr. Wir schwänzen und fahren nach Italien, wo wir aus den Apotheken mit vollen Tragtaschen zurück kommen, mit Kodein-Hustensyrup. Zytoxil hiess das Zeugs. Ich mache das halbe Jahr mit, dann schmeiss ich alles hin. Was nun? "Du brauchst eine Lehre!" Eine Lehre? Ok... 3/4 Jahr habe ich es ausgehalten. Dann wieder alles hingeschmissen. Und nun? Allgemeines rätseln. Fotograf! Dies möchte ich werden. Eindeutig...

Also besuche ich in Mailand den "Istituto Europeo di Design", eine für Italiener post-universitäre Akademie. Ich bin der Jüngste, mit meinen 17 Jahren. Das Diplom ist in der Schweiz anerkannt, ich kann Pendeln von zu Hause in die Schule und brauche keine Unterkunft in Mailand, die Kosten liegen im Budget. Doch es ist die falsche Schule, wie ich heute weiss. Dort lernt man den angehenden Fotografen nicht eine Idee, eine Kultur, einen Stil, ein Konzept, eine eigene Sprache. Dort fabriziert man Werbe-Fotografen für die italienische Editorial-Welt. Mit einigen Kollegen entscheide ich mich dafür, einen anderen Weg zu gehen. Wir möchten Reportage machen. Der Direktor höchst persönlich wird sich unserer annehmen. Ich soll zuerst Mailand fotografieren, für ein Reise-Magazin. Der Direktor ist beeindruckt: Ich habe Talent. Er hätte Lust, nach dem er diese Bilder gesehen hat, nach Mailand zu reisen und die Stadt zu besuchen. Eigentlich bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass ich Mailand für eine absolut hässliche Stadt halte, dass ich wirklich nichts an dieser Stadt mag. Schöne Postkarten-Bilder. Darin bin ich gut. Danach kam Bergamo. Will ich das? Nicht wirklich... Die Welt ist keine Postkarte. "Hätte ich nur Mode-Fotografie gewählt!" dachte irgendwann später. Doch dies ist eine andere Geschichte... Am Ende des Kurses sagte ein Professor zu mir
Hoffentlich wirst du SCHNELL zum Fotografen...
Sonst wirst du es nie!
Ich wurde es nie.
Hätte ich wenigstens an der Zürcher Kunst-Schule gelernt, wie man zum Künstler wird! Aber alle hatten mir gesagt, so schlecht wie ich zeichnen würde, hätte ich nicht die geringste Chance dort angenommen zu werden.

Fotograf war irgendwie das kleinste aller Übel, denke ich. Denn heute merke ich wie ich niemals wirklich einen Entscheid getroffen habe, betreffend meinem Beruf. Niemals bin in im Stande gewesen zu sagen, dies oder jenes sei meine Leidenschaft und ich würde bestimmt meine Erfüllung darin finden. Bis heute habe ich nicht die Beschäftigung gefunden, in der ich aufgehe und meinen Lebenssinn finde. Aus der ich meine Lebenskraft schöpfe. Bis heute ist dies ein geschlossener Vorhang vor meinen Augen, meinem Verstand und meinem Herz.

"Le Grand Bleu" von Luc Besson: Die Hauptfigur empfand ich natürlich als tragisch, wie sie nicht im Stande war eine Beziehung mit einem Mitmenschen aufrecht zu erhalten. Dennoch habe ich ihn beneidet, diesen Taucher, wie er unumstösslich von dieser Kraft getrieben war, die ihn ins dunkle Meer warf, hinunter in die Tiefe, in die Dunkelheit. Um jeden Preis. So was hatte ich niemals erlebt. Ausser mit Selbst-Zerstörerischem, vielleicht. Er zerstörte sich auch dabei, der Taucher, irgendwie, und dennoch hatte er zumindest das Glück etwas gefunden zu haben, was ihn darin zum Besten der Welt machte. Nicht weil er der beste der Welt sein wollte, sondern weil er dermassen getrieben war. So was würde mir auch gefallen, hatte ich immer gedacht.

Wieso war da nichts, das ich klar als "mein Ding" empfand? Weshalb war da nur immer dieser grosse Fragezeichen? Und dahinter eine unendliche Wüste, die Leere? Warum? Weshalb konnte ich mich nicht einfach an etwas erfreuen und dies den ganzen Tag machen wollen, so wie es den meisten Menschen zu gehen schien — die Einen mehr die Anderen weniger? Wieso war da nichts? Warum wurden alle rund um mir Anwälte, Ärzte, Fotografen, und ich stand da und wusste nicht was anfangen, mit mir?

Dabei... Es ist ja nicht das ich nicht hätte können, wenn ich hätte wollen. Ich weiss noch wie sehr mich das verfolgt hat, für viele viele Jahre. Dieses Gefühl der verpassten Chancen. Dieses Gefühl der verschwendeten Talente. Dieses Gefühl des Versagens in Abwesenheit von Versagen. Das Versagen, verursacht nicht durch Fehler sondern durch Inaktivität. Dieses Gefühl innerlich zu sterben, wenn es das Leben lang so bleiben sollte. Wie konnte es soweit kommen? Wie konnte dies geschehen? Ich war ein aufgestelltes, waches, fröhliches Kind gewesen. Ich war gut in der Schule, ohne die kleinste Anstrengung unternehmen zu müssen. Was war geschehen? Ich hatte nicht gelernt durch zu halten. Dran zu bleiben. Mich anzustrengen. Aber nicht weil mir das Durchhalte-Vermögen gefehlt hätte, nein, weil mir das Motiv dazu nie klar wurde. Ich hatte niemals gelernt, mich in einer Beschäftigung wieder zu erkennen.

Immer wieder kam mir in Sinn, wie meine Mutter verschiedene meiner Talente erkannt hatte, schon sehr früh. Wäre es nach ihr gegangen, hätten meine Eltern am selben Strang gezogen und daran geglaubt, dass aus mir etwas werden könnte, hätte ich vielleicht die Dimitri-Schule in Verscio besucht. Meine Mutter hatte immer wieder davon geschwärmt. Und ich hatte immer wieder mein Talent für die Bühne bewiesen. Schon in der Grundschule, mit dem Lehrer des 2. Zyklus, der später nach Paris ging um bei Marcel Marceau Pantomime zu lernen, war ich oft auf der Bühne. Mit grösster Freude und Befriedigung. Ich war sportlich sehr begabt und wäre somit der perfekte Bühnen-Akrobat gewesen. Doch irgendwie war dies für mein Vater kein Beruf, sondern ein Abend im Jahr, während der Freizeit, wenn es die wirkliche Arbeit, der Ernst des Lebens, zuliess. Irgendwann in einer 7 Tage Woche als Spediteur. So habe ich mein Talent nie auch nur im Geringsten als ernsthafte Möglichkeit betrachtet. Bis es schon viel zu spät war und nur noch eine Möglichkeit, eine verpasste, der man hinterher trauern konnte.

Ich habe meine Mutter einige Male darauf angesprochen und sie sagte, sie hätte Freude gehabt mich zum Beispiel bei Dimitri zu sehen. Aber irgendwie habe sie niemals ernsthaft darüber nachgedacht. Weshalb, wisse sie auch nicht. So kam es, dass ich mich irgendwie durchs Leben gekämpft habe. Wie jeder es tut. Zu wenig Werber um Werbe-Fotograf zu sein, zu wenig Künstler um Kunst-Fotograf zu sein. Keine Berufung, keinen Beruf, kein Hobby. Nichts. Nur Talent, das verloren ging. An das ich selbst immer weniger glaubte.

Zumindest ist es mir erspart geblieben, in einem Pneu-Haus eine KV-Lehre zu machen, alleine in einem fremden Kaff. Ist ja auch schon was, denke ich heute.