December 03, 2010

Meister der Inszenierung

 
In den Neunzigern bin ich in Arles gewesen, beim Photo-Festival. Da habe ich einen Vortrag von Richard Avedon gesehen. Tja... Es gibt nur einen Avedon. Es gibt nur einen Newton. Einen Salgado. Einen Herb Ritts. Einen Toscani. Einen Man Ray. Die Einen inszenieren ein bisschen mehr, die Anderen ein bisschen weniger. Oder gar nicht. Doch wenn du nicht Geld damit verdienen kannst, das zu fotografieren was du eben gerne fotografierst, ist dieser Beruf nicht unbedingt der beste. Oder wenn du nicht weisst, was du gerne fotografieren würdest. Aber dies ist eine andere Geschichte. Ich bin nämlich auch in Avignon gewesen, am Theater-Festival. Ein einmaliges Erlebnis. Die ganze Stadt ist eine riesige, wunderschöne Theater-Kulisse. Sie platzt aus allen Nähten und hat an jeder Ecke eine Sehenswürdigkeit zu bieten, sei es von der Architektur, der Geschichte oder eben den Künstlern her.

Dann bin einmal in Mailand ins Theater, zu Noun von "La Fura Dels Baus". Für mich sind sie die Terry Gilliams des Theaters: Die Meister des Unerwarteten, der möglichen Szenarien, der möglichen Parallel-Welten und Visionen, des Einsatz von Technik nicht als Selbstzweck, der indirekten sozialen Kritik durch wortkarger Inszenierung. Nach dieser Aufführung ist es schwierig gewesen, ins Theater zu gehen. Es war schwierig, nach diesem Highlight, meinen Sinnen und meinem Intellekt auch nur annähernd etwas bieten zu können, was sie so dermassen fasziniert und gefesselt hätte. Noun war so dermassen eine Show, dass es mit Theater schon nicht mehr viel zu tun hatte. Jedenfalls nicht im traditionellen Sinn.

Da standen wir also in dieser riesigen, leeren Fabrikhalle. Und warteten auf den Beginn der Show. 90 Minuten später standen wir wieder da, in einer riesigen Pfütze, Farben und Flüssigkeiten über den ganzen Boden verteilt, und fragten uns "Was ist das jetzt gewesen?" als seien wir gerade aus dem Auge eines Hurrikans ausgespuckt worden.

Vor dem Abend hatte ich die Befürchtung, es gäbe keine Geschichte, die Inszenierung sei auf Effekt-Macherei und Überraschung aus. Doch ich sollte eines Besseren belehrt werden. Die Geschichte war für mich so spannend wie wenige. Da ist also diese Maschine, diese Fortpflanzungs- und Gebär-Maschine. Die Plazentas hängen daran und werden fachmännisch überwacht, gehegt und gepflegt. Bei gegebener Zeit öffnet sich die Fruchtblase und der neugeborene Mensch wird auf der Welt empfangen. Das System und die ganze Gesellschaft wird von einem Individuum kontrolliert, reglementiert, überwacht. Er überwacht (auch) die Geburten. Ein Wesen behält die Kontrolle und sorgt für Ordnung. Keiner darf aus der Reihe tanzen. Nichts geht, ohne sein Zustimmen. Bis die Revolte beginnt. Und die Autorität wird umgestürzt, sein Körper wird in einem Fackel-Umzug durch die Halle getragen, zum Beweis der vollzogenen Entmachtung. Zuerst wird gejubelt und gefeiert. Man freut sich an der neu gewonnen Freiheit. Man festet, man feiert. Teils exzessiv. Sehr exzessiv. Langsam herrscht Anarchie. Sex wird ausschweifend getrieben. Die Samenergüsse sprühen Meter weit aus den Schläuchen. Gewalt breitet sich aus. Harte Gewalt. Nun ist die Hölle los. Nun herrscht das Chaos. Als Zuschauer ist man mitten drin, ständig in Bewegung, der Ort des Geschehens ändert ununterbrochen. Die verschiedenen Menschen jagen einander auf kleinen Wagen, quer durchs Publikum. Die Band-Mitglieder habe auch ihre Wagen. Menschen tauchen aus den unwahrscheinlichsten Orten auf. Der Typ mit laufender Kettensäge rennt durchs erschrockene Publikum. Es brennt, knallt, spritzt, schiesst, metzelt, rennt, schreit, raucht. Es ist laut. Sehr laut. Und wie es so ist, gewinnt in so einer Situation der Stärkere. In diesem Fall ein Paar. Anstatt ein einziges Individuum, ist es nun ein Paar, dass es schafft die Oberhand zu gewinnen. Langsam, nach dem etwas Ruhe eingetreten ist, versucht man etwas Ordnung zu gestalten. Das Stück endet wie es begonnen hat, mit der Gebär-Maschine. Nun wird sie aber von einem Paar überwacht. Und dieses scheint nicht weniger Autoritär zu sein, als ihr Vorgänger. The show must go on.

Es gibt eben Meister auf jedem Gebiet.